VON DER IWF-FRÜHJAHRSTAGUNG - IM GESPRÄCH: MAURICE OBSTFELD

"Die EZB sollte die Bowle noch nicht wegräumen"

Der IWF-Chefökonom warnt die Euro-Hüter vor einem verfrühten Ausstieg - Harsche Kritik an "schwarzer Null" - Deutschland soll in Europa Führung übernehmen

"Die EZB sollte die Bowle noch nicht wegräumen"

Nach der IWF-Frühjahrstagung in Washington mahnt IWF-Chefökonom Maurice Obstfeld im Gespräch mit der Börsen-Zeitung die EZB & Co. zur Vorsicht beim Exit, warnt Deutschland vor Selbstzufriedenheit und denkt über die Zukunft Europas nach.Von Mark Schrörs, zzt. WashingtonIWF-Chefökonom Maurice Obstfeld hat die Europäische Zentralbank (EZB) vor einem voreiligen Ausstieg aus der ultralockeren Geldpolitik gewarnt und sie aufgefordert, sich sogar zu wappnen, um im Notfall nachlegen zu können. “Es ist zu früh, den Exit einzuläuten. Die EZB sollte jetzt Kurs halten und im Gegenteil sogar vorbereiten sein, mehr zu tun, falls das nötig werden sollte”, sagte Obstfeld der Börsen-Zeitung nach der Frühjahrstagung des Internationalen Währungsfonds (IWF) am Wochenende in Washington: “Wenn die EZB die Zinsen voreilig anhebt, riskiert sie, die positive Entwicklung abzuwürgen.”Die Aussagen kommen unmittelbar vor der nächsten Zinssitzung der EZB an diesem Donnerstag. Die breite Mehrheit im EZB-Rat will bislang trotz anziehenden Wachstums und höherer Inflation nichts von einem Ausstieg aus ihrem in Deutschland heftig kritisierten, ultralockeren Kurs wissen. Allerdings nimmt auch im EZB-Rat der Streit über die Angemessenheit dieser Politik zu. Nicht zuletzt Bundesbankpräsident Jens Weidmann hält eine Exit-Debatte für legitim. In Washington hatte Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) auf eine rasche Kehrtwende der Euro-Hüter gedrungen. Positive Dynamik erhaltenObstfeld lobte, dass es jetzt eine positive Dynamik in der Euro-Wirtschaft gebe und die Aktivität merklich anziehe. Jüngste Indikatoren deuten darauf hin, dass die Wirtschaft zu Jahresbeginn um 0,6 % gewachsen sein könnte – nach 0,4 % Ende 2016. Auch der Start ins zweite Quartal scheine gut gewesen zu sein. “Die Hoffnung ist, dass diese Dynamik anhält und sich verstärkt”, sagte Obstfeld: “Das würde es der EZB dann erlauben, die Zinsen in der Zukunft zu erhöhen.” Noch aber sei es zu früh, die Geldpolitik zu straffen: “Die EZB sollte abwarten, dass sich die positive Stimmung festigt, bevor sie die Bowle wegräumt. Das ist auch noch sehr weit entfernt von einer wilden Party; die Leute werden gerade erst etwas entspannter.”Obstfeld räumte zwar auch ein, dass die Inflation angezogen habe. Im März lag sie bei 1,5 %, nachdem sie im Februar mit 2 % sogar leicht oberhalb des EZB-Zielwerts von unter, aber nahe 2 % gelegen hatte. Das liege aber vor allem an der Erholung der Rohstoffpreise: “Die Kerninflation ist immer noch niedrig.” Sie liegt seit langem konstant unterhalb von 1 %. Ähnlich wie Obstfeld argumentiert auch die Mehrheit im EZB-Rat, weswegen sie den Aufwärtstrend nicht als nachhaltig ansieht. Die EZB-Prognose selbst besage, “dass es noch ein weiter Weg ist bis zu einer nachhaltigen Rückkehr zum 2-Prozent-Ziel, dass das noch mindestens zwei Jahre dauert”, betonte Obstfeld: “Es ist jetzt nicht die Zeit, auf die Bremse zu treten.” Lieber zu spät als zu frühGenerell rät Obstfeld den führenden Zentralbanken, nach Jahren mit Inflationsraten deutlich unterhalb des verbreiteten 2-Prozent-Ziels jetzt lieber zu lange an der lockeren Geldpolitik festzuhalten. “Nach vielen Jahren, in denen wir uns Sorgen über Deflation gemacht haben, sollten die Zentralbanken jetzt lieber etwas zu spät als etwas zu früh aussteigen – das gilt für die Fed genauso wie für die EZB”, sagte er: “Ich sehe aktuell keine Gefahr, dass die Fed oder die EZB die Kontrolle über die Inflation verlieren könnten.” Der Chef der Zentralbank der Zentralbanken BIZ, Jaime Caruana, hatte dagegen unlängst im Interview der Börsen-Zeitung gewarnt, die Risiken eines zu späten Ausstiegs zu unterschätzen (vgl. BZ vom 11. April).Mit Blick auf die Fed, die ihren Leitzins bereits erhöht, sagte Obstfeld: “Sie agiert genau so, wie es dem Stand der US-Wirtschaft im Zyklus entspricht.” Die US-Arbeitslosenquote liegt bei 4,5 %, die Inflation nähert sich den 2 % an. “Die Gefahr, dass die Fed erheblich ,hinter die Kurve` fällt, ist minimal”, sagte er: “Ich sehe sogar einige Vorteile, ein leichtes Überschießen des 2-Prozent-Inflationsziels zu tolerieren. Das kann helfen, die Erholung zu verstärken und mehr Dynamik bei den Löhnen zu bekommen, die lange stagniert haben. Es kann auch helfen, die Inflationserwartungen zu erhöhen, und bei den Bilanzen helfen.”Obstfeld kritisierte seinerseits die Kritik in Deutschland an der EZB. “Deutschland möchte verschiedene Dinge, die für sich genommen vernünftig sein mögen, aber nicht konsistent sind”, sagte er: “Die Peripheriestaaten sollen konsolidieren und wieder wettbewerbsfähig werden, was zu niedrigerer Inflation führt; die Inflation in Deutschland soll bei oder unter 2 % liegen; und zugleich soll die EZB ihr 2-Prozent-Ziel erreichen. Das alles geht nicht gleichzeitig.” Wenn die Inflation in der Euro-Peripherie – politisch gewollt – deutlich unter 2 % liege, müsse sie in Deutschland über 2 % liegen, wenn im Durchschnitt der Eurozone 2 % erreicht werden sollten. “Das ist in Deutschland nicht populär, aber das ist einfache Arithmetik”, sagte Obstfeld. In den Anfangsjahren des Euro sei es genau umgekehrt gewesen. “Deutschland wird temporär mit etwas höheren Inflationsraten als 2 % leben müssen”, so Obstfeld.Er betonte auch, dass der Euro Deutschland auf kurze wie auf lange Sicht viele Vorteile bringe: “Deutschland profitiert langfristig von dem Euro und der wirtschaftlichen Integration in Europa, die es ohne den Euro so wohl kaum geben würde. Und Deutschland profitiert kurzfristig von dem etwas schwächeren Euro, weil er eine große Hilfe für die deutschen Exporte ist.”Im Streit mit Berlin über den hohen deutschen Leistungsbilanzüberschuss forderte Obstfeld erneut, dass Deutschland dagegen mehr tun müsse – etwa über mehr Investitionen. “In Deutschland gibt es sicher genug produktive Investitionsmöglichkeiten”, sagte er: “Wir empfehlen mehr Infrastrukturinvestitionen, wobei wir das breit definieren. Sinnvoll wären sicher mehr Investitionen in Ausbildung, aber auch ins Breitband.” Ein besserer Breitbandzugang könne auch die Erwerbsbeteiligung erhöhen und die Produktivität verbessern. “Und selbst in Deutschland sind nicht überall die Straßen in bestem Zustand”, sagte er: “Es gibt also viele Ansätze, mehr zu tun.”Obstfeld erinnerte daran, dass sich der deutsche Staat aktuell für 0 % Geld leihen könne. “Deutschland will zu Recht künftige Generationen nicht mit mehr Schulden belasten. Aber künftigen Generationen eine unzureichende Infrastruktur zu hinterlassen, ist im Zweifelsfall noch schlimmer”, sagte er. Harsche Kritik äußerte er an dem Ziel der “schwarzen Null”, also einem ausgeglichenen öffentlichen Haushalt, das Finanzminister Schäuble stets verteidigt: “Es wird zu viel Wert gelegt auf die ,schwarze Null`. Deutschland hat Spielraum, davon abzuweichen”, sagte Obstfeld: “Das ist ein willkürliches Ziel. Das ist ein Slogan, aber die ökonomische Rechtfertigung ist schwer zu finden.” Zu wenig InvestitionenObstfeld betonte, es sei ein Problem, dass aktuell ein Großteil der deutschen Ersparnisse auf den globalen Märkten lande, weil es nicht genug Investitionen in Deutschland gebe. Das drücke die weltweiten Renditen und die realen Gleichgewichtszinsen. “Der hohe deutsche Überschuss trägt somit also gerade zu den Bedingungen bei, die die deutschen Sparer nicht mögen – den niedrigen Zinsen. Das macht auch der EZB die Arbeit schwerer, weil sie ihre nominalen Zinsen niedrig halten muss”, sagte er: “Die deutsche Bevölkerung würde also profitieren von Maßnahmen, die dazu führen, dass weniger deutsche Ersparnis auf den internationalen Märkten landet.”Obstfeld warnte Deutschland, sich auf der guten Wirtschaftslage auszuruhen: “Deutschland muss und kann mehr tun, um das Potenzialwachstum zu erhöhen.” Das eine seien Infrastrukturinvestitionen. “Infrastrukturinvestitionen versprechen auch eine höhere gesellschaftliche Rendite als Steuersenkungen und sie könnten darüber hinaus auch positive Ausstrahleffekte auf andere Euro-Länder und weltweit haben”, sagte er. Er fügte aber hinzu: “Es gibt auch Spielraum für Strukturreformen, wie die Öffnung des Dienstleistungssektors. Das wäre sehr produktiv.”Eindringlich warnte Obstfeld davor, frühere Arbeitsmarktreformen zum Teil zurückzudrehen – wie es die SPD im Bundestagswahlkampf verspricht. “Es wäre mit Blick auf die Dynamik der deutschen Wirtschaft ein schwerer Fehler, diese Reformen zurückzudrehen. Das würde dem Wachstum sicher schaden”, sagte er. Er kritisierte auch, dass argumentiert werde, die Hartz-Reformen hätten zu mehr Ungleichheit geführt. Studien des IWF belegten das nicht. “Es ist schwer, überzeugend zu argumentieren, dass die Hartz-Reformen zu mehr Ungleichheit geführt haben”, so Obstfeld.Mit Blick auf die Zukunft Europas und der Eurozone appellierte Obstfeld an Berlin: “Deutschland sollte in Europa wieder die Führung übernehmen und das europäische Projekt vorantreiben.” Wichtig sei es jetzt, die Bankenunion zu vollenden, was auch eine gewisse zentrale fiskalische Kapazität erfordere. “Ich glaube nicht, dass es bald ein EU-Finanzministerium geben wird. Aber es gibt andere Dinge, über die sich nachzudenken lohnt. Die Bankenunion mit einem erheblichen fiskalischen Backstop würde sicher sehr helfen und könnte sich künftig noch zu etwas anderem weiterentwickeln”, sagte er. In Berlin werden Vorschläge für eine EU-Fiskalkapazität äußerst kritisch gesehen. ESM sinnvoll ausbauenNach Ansicht Obstfeld könnte Europa auch mit dem Euro-Rettungsfonds ESM “ambitionierter” sein: “Der ESM war eine sehr gute Innovation und er könnte sinnvoll ausgebaut werden.” In Washington hatte Finanzminister Schäuble immer wieder für seine Idee geworben, den ESM zu einem Europäischen Währungsfonds zu entwickeln. Obstfeld sagte dazu: “Am Ende hängt alles von den Details ab. Im Prinzip kann ein aufgewerteter ESM mit erhöhten Emissionsmöglichkeiten und neuen Tätigkeitsfeldern ein Beitrag sein, die Währungsunion besser aufzustellen. Das kann dann auch der Startschuss sein für eine stärker zentralisierte fiskalische Kapazität.”