IM INTERVIEW: HENNING VÖPEL

"Die G 20 ist richtig und notwendig"

HWWI-Chef: Multilateralismus weiterverfolgen - Deutschland sollte öffentliche Investitionen erhöhen

"Die G 20 ist richtig und notwendig"

Klima, Handel, Finanzmärkte, Migration, Terror: Das Themenspektrum beim Treffen der 20 größten Industrie- und Schwellenländer (G 20) in Hamburg ist breit. Über die Abschlusserklärung wird wenige Tage vor dem Gipfel noch verhandelt. Im Interview spricht Henning Vöpel, Chef des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts (HWWI), über seine Erwartungen.- Herr Professor Vöpel, die Globalisierung hat in den vergangenen 20 Jahren dazu beigetragen, das weltweite Wohlfahrtsgefälle und die Armut in vielen Teilen der Erde zu verringern. Dennoch machen Globalisierungsgegner auch in Hamburg gegen das G 20-Format mobil. Was läuft verkehrt?Globalisierung ist ökonomisch betrachtet eine Erfolgsgeschichte. Aber es gibt auch negative Begleiterscheinungen globaler Verflechtung. Zum Beispiel haben wir die Verteilungswirkungen der Globalisierung in den westlichen Demokratien unterschätzt: Arbeit ist durch die Integration von China und Indien reichlich geworden, Kapital dagegen relativ knapp und weltweit mobil. So wie es in den Schwellenländern zum Aufbau einer arbeitenden Mittelschicht gekommen ist, hat hier die untere Mittelschicht, was Einkommen und Vermögen betrifft, relativ verloren. Das hat die Gesellschaft und ihre innere Stabilität verändert. Inzwischen sind wir auf einem Niveau an Globalisierung angelangt, an dem die Verteilungswirkungen größer sind als die zusätzlichen Handelsgewinne. Da stellt sich die Frage, wie machen wir weiter mit Globalisierung?- Welche politische Handlungsanleitung ergibt sich aus der Erkenntnis, dass die Verteilungswirkungen der fortschreitenden Globalisierung in vielen Ländern inzwischen größer sind als die zusätzlichen Handelsgewinne?Dass die tief hängenden Früchte der Globalisierung abgeerntet sind und eine noch engere wirtschaftliche Integration immer schwieriger durchzusetzen ist. Das haben wir am Beispiel TTIP gesehen. In gewisser Weise sind wir auf dem Höhepunkt der globalen Verflechtungen angekommen, Peak Trade sozusagen. Von nun an bräuchten wir ein anspruchsvolleres Modell von Globalisierung, eines, das stärker auf Verteilung, Inklusion und Nachhaltigkeit ausgerichtet ist. Viel wahrscheinlicher aber ist es, und das können wir gerade beobachten, dass nicht ein neues Modell globaler Kooperation entworfen wird, sondern wieder nationale Interessen in den Vordergrund gerückt werden. Hinter all den oberflächlichen Phänomenen wie Trump oder Brexit steckt in Wahrheit eine grundlegende Neuordnung zwischen Globalisierung, Nationalstaat und Demokratie.- Wie könnte eine neue Balance zwischen Globalisierung, Nationalstaat und Demokratie aussehen?Wir müssten entweder Demokratie supranational organisieren oder Globalisierung einschränken. Sonst entsteht ein Legitimationsdefizit. Daneben gibt es aber natürlich immer auch globale Probleme, wie etwa Klimawandel oder Migration, die unabhängig von Globalisierung eine internationale Kooperation erfordern. Aus diesem Grund ist eine Institution wie die G 20 bei aller Kritik richtig und notwendig.- Beim jüngsten G 7-Gipfel auf Sizilien ist deutlich geworden, wie gespalten selbst die relativ homogene Gruppe der größten Industriestaaten in wichtigen Zukunftsfragen wie dem Kampf gegen den Klimawandel ist. Was ist dem G 20-Format noch zuzutrauen, wenn die Zeichen weltweit auf Abschottung und Nationalismus stehen?Den großen Durchbruch wird es auch dieses Mal nicht geben. Dafür sind die Interessen heute zu unterschiedlich. Wir bewegen uns nicht mehr auf dem gemeinsamen Pfad der Globalisierung. Wenn die Effekte der internationalen Verflechtung geringer werden, treten naturgemäß divergierende geopolitische Interessen und strategische Machtfragen vor rein ökonomischen Fragen in den Vordergrund. Es wäre indes fatal, wenn wir im Zeitalter digitaler Vernetzung und mächtiger globaler Plattformen nicht die Kraft aufbrächten, einen gemeinsamen regulatorischen und ethischen Rahmen zu stecken. Es droht sonst eine gefährliche Fragmentierung der Weltwirtschaft.- In Zeiten, in denen einzelstaatliche Interessen an Einfluss gegenüber Gemeinschaftsinteressen zu gewinnen drohen, scheint es umso wichtiger, die Bereitschaft zu Konsens und Kooperation in der internationalen Politik zu erhalten. Bringt es aber die Welt weiter, wenn die G 20-Staaten sich nicht mehr auf den kleinsten, sondern allenfalls noch auf einen allerkleinsten gemeinsamen Nenner verständigen können?Ja, es ist enorm wichtig, sich dennoch und gerade deshalb um einen minimalen Konsens zu bemühen. Ohne gemeinsame Regeln, die von allen respektiert werden, droht der Welt ein Rückfall in Nationalismen und Protektionismus. Wir leben in einer wertepluralistischen Welt, die hoch vernetzt ist. Vor diesem Hintergrund brauchen wir Regeln als Grundlage für eine globale Governance. Der Multilateralismus muss als Ansatz weiterverfolgt werden. Eine Weltregierung gibt es – zum Glück – noch nicht. Aber es gibt globale Probleme, die dennoch zu lösen und zu entscheiden sind. Daraus folgt die Notwendigkeit zum Dialog. Aber natürlich können und müssen sich darüber hinaus Allianzen in bestimmten Fragen bilden, um Fortschritt und Durchsetzungsfähigkeit in diesen Fragen zu erzeugen.- Wenn Sie für neue Allianzen plädieren: Was muss jetzt, wo sich die Franzosen mehrheitlich für eine europafreundliche Regierung entschieden haben, geschehen, damit sich die Fliehkräfte in Europa nach dem Brexit nicht verstärken?Die Brexit-Verhandlungen bieten auch für Europa eine Chance, über ein neues Design des institutionellen Europa nachzudenken. Die gegenwärtige Instabilität rührt von der unzureichenden Flexibilität. Wenn wir unterschiedliche Integrationsgrade zulassen, könnte es für die Stabilität Europas gut sein. Bislang heißt es nur: rein oder raus. Das lähmt und bremst einen großen Club der 28 (27) Mitglieder natürlich. Ein “Club der Willigen” in Europa könnte die Stagnation überwinden und neue positive Anreize für eine engere Integration setzen.- Wie wichtig wäre es, dass französische Forderungen nach einem gemeinsamen Budget für die Währungsunion und einem Euro-Finanzminister umgesetzt werden? Und welche Befugnisse müsste dieser Finanzminister haben?Mit Frankreichs neuem Präsidenten Emmanuel Macron ist sicherlich die Hoffnung zurückgekehrt, dass das europäische Projekt gerettet werden kann. Merkel und Macron könnten historisch in einer Reihe mit Schmidt/Giscard d’Estaing und Kohl/Mitterrand stehen. Tatsächlich wird man nach der Bundestagswahl sehen, dass ein europäischer Finanzminister und vor allem Euro-Bonds bei der deutschen Bundesregierung kaum auf Gegenliebe stoßen werden. Die politisch-historische Dimension von Europa zu bemühen, ist richtig und notwendig, aber es gibt sehr grundlegende technische und institutionelle Defizite zu korrigieren.- Welche Chancen räumen Sie der Vollendung der europäischen Bankenunion ein, inklusive einer gemeinsamen Einlagensicherung?Im Moment haben wir in der Eurozone einen symmetrischen konjunkturellen Aufschwung. Das könnte zu der irrigen Annahme verleiten, alles sei gut. Stabilität zeigt sich im Sturm. Wenn man eine gemeinsame Währung hat, ist es nur konsequent, die Fragen der Banken-, Finanzmarkt- und Währungsstabilität ebenfalls gemeinsam zu organisieren. Angesichts der derzeit sehr unterschiedlich verteilten Risiken und Lasten halte ich eine schnelle Einigung für unwahrscheinlich. Erst wenn das Wesentliche bereinigt ist, gibt es die Chance dafür.- Die Diskussion über die Bankenunion ist mit der Erlaubnis der EU-Kommission, dass Italien staatliche Zuschüsse und Garantien in Milliardenhöhe zur Verfügung stellen darf, um eine schonende Abwicklung zweier schwer angeschlagener Regionalbanken zu ermöglichen, gerade wieder neu entfacht worden. Steuerzahler in Europa sollten bei Bankkrisen künftig außen vor sein. Wer soll bei solchen Entscheidungen wie jetzt in Italien an einen Erfolg der Bankenunion glauben?Die Risiken und Kosten aus der Vergangenheit müssen nach dem alten Regime getragen werden. Danach kann es in einem neuen europäischen Regulierungsregime weitergehen. Aber das Beispiel Italien zeigt ja sehr gut, wie unbefriedigend im Grunde das gegenwärtige System ist: Die nationale Bankenstabilität ist im Kontext der Währungsunion eng an die europäische Bankenstabilität gekoppelt. Die Rettung ist aber nationale Aufgabe, das kann nicht sein, weil ein Konflikt zwischen Systemrisiken und Beihilferecht besteht. Das lässt sich nicht fallweise lösen.- Es gibt Befürchtungen, die US-Regierung könnte sich von Vereinbarungen zur Regelung der internationalen Finanzmärkte verabschieden. Für wie wichtig halten Sie die Finanzregulierung als gemeinsames Projekt der G 20-Staaten?Wir stehen vor einer Neuordnung der Globalisierung, die extreme und plötzliche Verschiebungen nach sich ziehen kann, was wiederum starke und volatile Kapitalbewegungen auslöst. Die Finanzmärkte müssen all dies abfedern. Dafür brauchen wir eine internationale Finanzregulierung, die Fragilität der globalen Finanzarchitektur reduziert. Die USA selbst könnten mit einer kurzfristig starken Aufwertung des Dollar und einer langfristig geringeren Bedeutung als Reservewährung Quelle für erhebliche Instabilität werden.- Deutschland steht wegen seiner Handelsbilanzüberschüsse international am Pranger. Halten Sie die Vorwürfe für angebracht und angemessen?Wir sind eine alternde Gesellschaft, das heißt, wir müssen für die Zukunft sparen, Gegenwartskonsum gegen Zukunftskonsum tauschen. Sparen kann man volkswirtschaftlich, indem man investiert oder netto exportiert, also Forderungen gegenüber dem Ausland erwirbt. Insoweit ist der deutsche Überschuss im Prinzip gerechtfertigt. Allerdings ist der Überschuss von 9 % am Bruttoinlandsprodukt sehr hoch und kann, da er sich chronisch kumuliert, als Ungleichgewicht bezeichnet werden. Denn dem deutschen Überschuss stehen natürlich hohe Defizite anderer Länder, darunter auch Mitgliedstaaten der Eurozone, gegenüber. Deren Schuldentragfähigkeit könnte von den Märkten plötzlich als kritisch eingeschätzt werden und krisenhafte Entwicklungen auslösen.- Welchen wirtschaftspolitischen Handlungsbedarf sehen Sie?Es geht darum, den Überschuss auf ein verträgliches Maß zu reduzieren. Dafür werden unterschiedliche Instrumente diskutiert: von Lohnerhöhungen über eine Senkung der Mehrwertsteuer bis zu höheren Investitionen. Angesichts einer eher moderaten Produktivitätsentwicklung in Deutschland und eines Investitionsstaus kann und sollte man die öffentlichen Investitionen erhöhen.- Wann würden Sie von einem Erfolg des G 20-Gipfeltreffens in Hamburg sprechen?Wenn die internationale Politik die Fähigkeit zu globaler Kooperation erhält und die wichtigen langfristigen Themen in den Fokus nimmt, die über die Zukunft der Globalisierung maßgeblich entscheiden werden; die Liste ist lang: Abbau der Ungleichgewichte, Finanzmarktstabilität, globale Verteilung, Infrastrukturinvestitionen, Afrika, Klimawandel, Migration und Gesundheit. Je stärker die Politik jetzt langfristige Probleme angeht, desto eher verlässt sie den Dauerkrisenmodus und kann in Zeiten der Unsicherheit die dringend benötigte Orientierung geben.—-Das Interview führte Carsten Steevens.