IM INTERVIEW: JANET HENRY

"Die Gefahr einer Eskalation steigt"

Die HSBC-Chefvolkswirtin über den Handelsstreit, die Lage der Weltwirtschaft und die Politik von Fed & Co.

"Die Gefahr einer Eskalation steigt"

Der globale Handelsstreit, der steigende Ölpreis, die geopolitischen Risiken – der Ausblick für die Weltwirtschaft ist 2018 weniger rosig als noch 2017. Zur aktuellen Lage sowie zu Chancen und Risiken ein Interview mit HSBC-Chefvolkswirtin Janet Henry.- Frau Henry, in den vergangenen Monaten gab es weltweit einige schwächere Konjunkturdaten: Droht der Weltwirtschaft im zehnten Jahr nach der Weltfinanzkrise der nächste Abschwung oder gar eine neuerliche Rezession?Das Bild, das die Weltwirtschaft abgibt, hat sich seit dem zweiten Halbjahr 2017 ganz ohne Frage deutlich verändert. Damals sind nicht nur alle großen Regionen gewachsen, das Wachstum beschleunigte sich sogar überall gleichzeitig. Europa stach da besonders positiv hervor. Jetzt hat sich das Wachstum in Europa und Japan verlangsamt, und das stärker als erwartet. Dazu mögen temporäre Faktoren wie das Wetter beigetragen haben. Aber klar ist: 2017 war ein Jahr mit vielen Überraschungen auf der positiven Seite. 2018 erleben wir bisher eher ein Jahr mit negativen Überraschungen.- Und wie schlimm wird es noch?Es gibt bislang keinen Grund, die Lage zu dramatisieren. Das weltweite Wachstum ist stabil. Für dieses Jahr sagen wir ein Plus von 3,0 % voraus und für 2019 von 2,8 %. Aber die Wachstumsraten werden wieder stärker auseinanderlaufen. Der Aufschwung im Gleichschritt ist vorbei. Ich unterscheide gerne zwischen den Ländern, die das globale Wachstum quasi als Lokomotiven treiben, und jenen Ländern, die eher im Windschatten profitieren. USA und China sind die Treiber, Europa und Japan eher die Mitfahrer. Wenn der globale Handelszyklus und die weltweite Industrieproduktion gut laufen, überraschen Europa und Japan oft positiv. Wenn das nicht der Fall ist, leiden sie mit am stärksten.- Und so wird es jetzt wieder sein?In den USA wird der fiskalische Stimulus das Wachstum jetzt erst einmal ankurbeln. Im zweiten Halbjahr dürfte die US-Wirtschaft von den Steuersenkungen und den höheren Staatsausgaben profitieren. Langfristig birgt der Stimulus natürlich einige Herausforderungen: Die Budgetdefizite werden höher sein, der Schuldenstand wird steigen, und das Leistungsbilanzdefizit wird sich ausweiten. Diese Politik kann längerfristig zu einem Problem für den Dollar und seine Rolle als Weltreservewährung werden. Kurzfristig sind die Folgen für die US-Wirtschaft aber sicher positiv.- Und Europa und die Eurozone fallen wie Japan weiter zurück?In der Eurozone sehen wir immer stärker, wie die letztjährige Euro-Aufwertung zur Belastung wird – das wirkt mit Verzögerung. Auch der steigende Ölpreis dämpft das Wachstum, weil er die Kaufkraft mindert. Zudem droht sich in Europa die Hoffnung auf ein starkes Revival der Investitionen zu zerschlagen. Da zeigen sich vermutlich bereits erste Auswirkungen der globalen Handelsstreitigkeiten. Unsicherheit ist Gift für die Investitionsbereitschaft.- Spielen auch die politischen Risiken eine Rolle – Stichwort: Italien?Politische Risiken sind immer ein Anlass zur Sorge, und sie können die inländische Wirtschaftsdynamik belasten. Wenn sich die Stimmung eintrübt, ist es aber oft schwer, genau zu identifizieren, woran das liegt. Vieles spricht indes aktuell dafür, dass die jüngste Stimmungseintrübung in Europa und im Euroraum stark getrieben ist von den Sorgen um die Handelskonflikte. Es gibt mehr Belege für eine Abschwächung des Welthandelszyklus. Der globale Handel nimmt ab. Das trifft vor allem Europa und Japan.- Warum aber schlägt sich das in den USA nicht ähnlich nieder?Für die USA erwarten wir dieses und nächstes Jahr 2,8 % und 2,4 % Wachstum. Wir sind aber nur verhalten optimistisch, was die Investitionen betrifft. Im vierten Quartal 2017 und im ersten Quartal 2018 waren sie recht stark, getrieben vom Energie- und Technologiesektor. In Zukunft wird die US-Wirtschaft aber erneut vor allem vom starken Konsum profitieren. Dazu trägt das Fiskalpaket bei. Längerfristig kommen die Steuersenkungen zwar vor allem den Gutverdienern zugute. 2018 und 2019 werden aber große Teile der Bevölkerung profitieren. – Eine Rezession in den USA, wie sie mancher Beobachter spätestens 2020 befürchtet, erwarten Sie absehbar also nicht?Unsere Prognose geht nur bis Ende 2019, und in dieser Zeit befürchten wir keine Rezession in den USA. Wir gehen auch nicht davon aus, dass die Fed ihren Leitzins so weit anheben wird, dass sie deutlich in den restriktiven Bereich vorstößt.- Lassen Sie uns noch beim Handelsstreit bleiben, bevor wir zur Geldpolitik kommen: Sie würden also sagen, dass bereits die bisherigen Konflikte Schaden anrichten – mindestens in Europa?Es ist noch zu früh, um die direkten Effekte zu quantifizieren. Die ersten der jetzt in Kraft getretenen Zölle waren jene auf Waschmaschinen und Solarpanels im Januar. Die Stahl- und Aluminiumzölle kamen im März, aber viele große Länder und Regionen hatten erst einmal Ausnahmen bis Mai. Es ist also nicht davon auszugehen, dass sich diese Entscheidungen bislang schon in den Handelsströmen niederschlagen. Aber auf die Stimmungsindikatoren hat sich der Streit sicher schon ausgewirkt. Im zweiten Halbjahr 2018 steht da mehr zu befürchten. Die EU hat bereits auf die Erhebung von Metallzöllen geantwortet, und die USA und China haben ja bekanntlich Zölle auf eine ganze Reihe von Waren erhoben. – Sie erwarten also, dass das “Wie du mir, so ich dir” weitergeht und der Konflikt weiter eskaliert?Die Gefahr einer Eskalation des Handelsstreits steigt. Aber es ist schwer vorherzusagen, was passiert. Auf der einen Seite sind manche Experten mit US-Präsident Donald Trump hinsichtlich der Sorge über möglichen Technologietransfer einer Meinung. Auf der anderen Seite gibt es auch in den USA Widerstand gegen Trumps Handelspolitik. Einige Senatoren versuchen, die Exekutivrechte des Präsidenten einzuschränken. Die Verhandlungen mit Europa und China haben bisher noch keinen Durchbruch erzielt. Das nächste große Risiko ist, dass auch andere Länder reagieren – Länder, die gar nicht direkt beteiligt sind, aber zum Beispiel von dem Überangebot an billigem Stahl betroffen sind. Sie könnten dann auch Zölle oder Ähnliches beschließen. Eine schnelle Lösung des Handelsstreits ist leider nicht zu erwarten.- Auch in der US-Wirtschaft wächst der Widerstand. Ist der Aufschrei noch nicht groß genug?Für die US-Wirtschaft kommt es nun darauf an, wie genau es weitergeht. Schauen Sie sich die erste Liste von Zöllen auf chinesische Produkte im Wert von 50 Mrd. Dollar an: Darauf finden sich nur zu rund 1% Konsumgüter. Der US-Konsument wird das also kaum groß spüren, das ist keine große Belastung. Wenn es aber nun um Güter im Wert von 250 Mrd. Dollar geht, ist es nahezu unmöglich zu verhindern, dass auch der US-Konsument schwerer getroffen wird.- Könnte es gar wie in den 1930er Jahren zu einer globalen Protektionismuswelle kommen, die damals mitverantwortlich war für die Große Depression?Man sollte niemals die Fähigkeit der Menschen unterschätzen, einmal gemachte Fehler zu wiederholen! Aber im Ernst: Die Gefahr einer Implosion des Welthandels wie 1932/1933 halte ich zumindest aktuell für gering. Es gibt auch einige ermutigende Signale wie das Angebot des US-Botschafters an die deutschen Autobauer. Die Streitigkeiten sind zudem bislang sehr stark bilateral geprägt: die USA gegen Europa, die USA gegen China. Sicher geht auch Europa gegen China vor wegen Verstößen gegen das Recht an geistigem Eigentum – aber das vor der WTO. Zugleich schließt die EU einen Handelsdeal mit Kanada, es gibt neue Abkommen in Asien und den Anlauf für ein TPP 2.0. Der Rest der Welt bemüht sich weiter um eine Liberalisierung des Handels und ist den vermeintlichen Verlockungen des Protektionismus bislang nicht erlegen.- Kommen wir zur Geldpolitik: Die Fed will ihre Politik der graduellen Zinserhöhungen fortsetzen. Ist das angemessen oder überzieht die Fed, wie offenbar selbst einige US-Notenbanker befürchten?In der US-Notenbank gehen die Meinungen weit auseinander. Die große Herausforderung für die Fed wie für andere Notenbanken und überhaupt für alle politischen Entscheidungsträger ist sicherzustellen, dass sich der aktuelle Aufschwung möglichst lange fortsetzt und nachhaltig ist. Viele Menschen profitieren bislang noch nicht wirklich vom Wachstum, was auch die verbreitete Zustimmung zu populistischen Ideen erklärt. Je länger der Aufschwung anhält, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass er in allen Teilen der Bevölkerung ankommt. – Aber aktuell fährt die Fed aus Ihrer Sicht den richtigen Kurs?Der Kurs der Fed scheint mit Blick auf das duale Mandat von Preisstabilität und Beschäftigung angemessen. Einfach ist die Lage für die US-Währungshüter aber nicht. Die Fed muss zum Beispiel versuchen vorauszusehen, wie und wann sich der fiskalische Stimulus beim Wachstum und der Inflation niederschlägt. Der Leitzins ist zudem nur ein Teil der Finanzierungsbedingungen und damit der Straffungsstory. Was passiert mit dem Dollar? Was ist mit anderen Vermögensklassen? Und wie entwickeln sich die langfristigen Zinsen? All das muss die Fed berücksichtigen.- Die steigenden US-Zinsen und der stärkere Dollar stellen viele Schwellenländer vor Probleme, die sich stark in Dollar verschuldet haben. Müsste die Fed das stärker in den Blick nehmen?Zunächst einmal: Die Lage in den Schwellenländern insgesamt ist gar nicht so schlecht, sondern relativ stabil. Das gilt selbst für Lateinamerika. Ohne Frage haben dort viele Länder Probleme – Argentinien, Brasilien, Mexiko. In den vergangenen sechs Monaten haben sie aber herausgefunden aus der Rezession des vergangenen Jahres. Was nun Ihre Frage betrifft: In den vergangenen Jahren war der Dollar eine Art automatischer Stabilisator für die US-Wirtschaft, und er hatte großen Einfluss auf die Fed-Politik. Lange Zeit hat ein starker Dollar Zinserhöhungen in den USA verhindert oder zumindest gebremst. Das ist jetzt nicht mehr so. Wie erwarten Euro-Dollar Ende 2018 bei 1,13. Aber das wird die US-Wirtschaft nicht erheblich bremsen, weil es zugleich den fiskalischen Stimulus gibt. Die Straffung in den USA wird sich also vor allem via andere Länder auf die Weltwirtschaft auswirken.- Und zuvorderst über die Schwellenländer, die unter Kapitalabflüssen leiden? Muss die Fed das nicht stärker in den Fokus nehmen, weil es auch wieder auf die US-Wirtschaft zurückwirkt?Die Geschichte zeigt, dass die Fed globale Entwicklungen aufmerksam beobachtet und dass diese großen Einfluss auf ihre Politik haben. Wenn es einen synchronen globalen Aufschwung gibt und sich die globale Produktionslücke schließt, kann die Fed ihre Geldpolitik normalisieren. Wenn sich das globale Wachstum viel stärker abschwächt als bislang erwartet, wird die Fed die Zinserhöhungen stoppen. Die Fed hat kein Interesse daran, das globale Wachstum in einer Weise zu dämpfen, die es ihr schwerer macht, die eigenen Ziele zu erreichen.- Die Europäische Zentralbank (EZB) hat ein Ende ihrer Anleihekäufe (Quantitative Easing, QE) Ende 2018 in Aussicht gestellt. Kommt die Entscheidung zu früh, zu spät – oder zur rechten Zeit?Die EZB war mit QE zu spät dran und zu zögerlich. Wenn wir eines über QE gelernt haben, dann das: Man muss es früh machen und mit großen Volumina. Was nun die jüngste Entscheidung betrifft: Die EZB sagt für die nächsten beiden Jahre Wachstum über Potenzial voraus und ein allmähliches Anziehen der Inflation in Richtung des Ziels von unter, aber nahe 2 %. Das deckt sich mit unseren Prognosen. Wir sehen das Wachstum 2019 bei 1,7 % und die Inflation bei 1,7 %. Es erscheint also absolut angemessen, die sehr expansive Geldpolitik im Euroraum ein wenig zurückzunehmen. Angesichts der Unsicherheiten ist aber auch völlig richtig, dass sich die EZB nicht festgelegt hat. Sie kann ihre Kommunikation und ihren Kurs wann immer nötig wieder ändern. EZB-Präsident Mario Draghi hat die Lage sehr gut gemeistert.- Sehen Sie nach den Krisen der vergangenen Jahre eine Notwendigkeit, Mandate, Strategien und Ziele der Notenbank zu überdenken?Ich denke, es gibt die Notwendigkeit, die Geldpolitik fundamental auf den Prüfstand zu stellen, und ich erwarte, dass die Fed unter Präsident Jerome Powell auch genau das tun wird. Klar ist aber auch: Kein alternatives Regime ist perfekt. Für mich ist vor allem eines entscheidend: Die Zentralbanken sollten in ihrem Ringen um Preisstabilität einen längerfristigen Blick einnehmen. Maßnahmen, die dazu beitragen sollen, das Inflationsziel in zwei Jahren zu erreichen, können dazu beitragen, dass es schwieriger oder unmöglich wird, das Ziel in fünf Jahren zu erreichen.- Und das weltweit verbreitete 2-Prozent-Ziel selbst?Es gibt an den 2 % nichts Magisches. Man kann sich sogar fragen, ob einige Länder die 2 % überhaupt nachhaltig erreichen können. Ein striktes numerisches Inflationsziel hat im Kampf gegen eine zu hohe Inflation sicher geholfen. Wenn die Inflation aber viel zu niedrig ist und es darum geht, diese anzuheben, ist ein solches Ziel weniger nötig und hilfreich.—-Das Interview führte Mark Schrörs.