LEITARTIKEL

Die Gefahr ist nicht gebannt

Die soziale Agenda ist für französische Staats- und Regierungschefs nach der Rückkehr aus der Sommerpause ein Pflichttermin. Vergangenes Jahr jedoch hat ihn Präsident Emmanuel Macron gründlich verfehlt. Geschwächt durch die Affäre um seinen früheren...

Die Gefahr ist nicht gebannt

Die soziale Agenda ist für französische Staats- und Regierungschefs nach der Rückkehr aus der Sommerpause ein Pflichttermin. Vergangenes Jahr jedoch hat ihn Präsident Emmanuel Macron gründlich verfehlt. Geschwächt durch die Affäre um seinen früheren Sicherheitsberater Alexandre Benalla hatte er die ersten Anzeichen für die steigende Unzufriedenheit verkannt. Nur zweieinhalb Monate nach dem Ende der Sommerferien gingen die Gelbwesten zum ersten Mal auf die Straße. Mit ihren Protesten legten sie wochenlang jeden Samstag die Zentren französischer Großstädte lahm. Inzwischen hat sich die Lage in den Innenstädten an den Wochenenden wieder normalisiert, auch wenn hier und da vereinzelt ein paar unermüdliche Gelbwesten zu sehen sind. Gebannt ist die Gefahr, dass die Gilets Jaunes Macron nun erneut unter Druck setzen, jedoch noch lange nicht.Im Gegenteil, denn für den jungen Präsidenten steht in den nächsten Monaten viel auf dem Spiel. Nachdem die Protestbewegung seinem Reformeifer letzten Winter einen Dämpfer versetzte, stehen nun weitere wichtige Umbauten an. Allerdings haben sich die Ausgangsbedingungen für Macron dabei im Vergleich zum letzten Jahr deutlich verbessert. Sein diplomatischer Erfolg beim G7-Gipfel in Biarritz verschafft ihm Spielraum, einen gewissen Elan, von dem er bei dem nun geplanten Reformprogramm zu profitieren hofft.Gleichzeitig steht Frankreich wirtschaftlich zur Zeit besser als seine beiden Nachbarn Deutschland und Italien da. Denn sie bekommen die Handelsstreitigkeiten zwischen den USA und China zu spüren, da ihre Wirtschaft stärker von der Industrie und Exporten abhängt. Für die zweitgrößte Volkswirtschaft dagegen zahlt sich nun aus, stärker vom Binnenkonsum bestimmt zu sein. Diesem kommen nun ausgerechnet die Zugeständnisse zugute, die Macron an die Gelbwesten machen musste. Denn die steuerlichen Erleichterungen, die angesichts des von ihm versprochenen Defizitabbaus zunächst wie ein Paradox wirkten, stärken die Kaufkraft der Haushalte. Deren Vertrauen ist nach der Depression Ende letzten Jahres inzwischen wieder auf ein Niveau gestiegen, das über dem der letzten zwei Jahrzehnte liegt. Gleichzeitig ist die Arbeitslosigkeit mit zuletzt 8,5 % inklusive der Übersee-Départements auf den niedrigsten Stand seit zehn Jahren gefallen, und die Zustimmungswerte für Macron sind mit 34 % ähnlich wie vor einem Jahr.Zudem scheint der Präsident die Konsequenz aus der Kritik gezogen zu haben, volksfremd, besserwisserisch und überheblich zu sein. Vor dem G7-Gipfel gab er sich bescheiden und erklärte, es werde dort sicher nicht alles erreicht werden, was er sich vorgenommen habe. In Fernsehauftritten wandte er sich vor und nach dem Treffen der sieben größten Industrienationen direkt an die Bevölkerung, um ihnen die Herausforderungen und Ergebnisse zu erklären. Am 2. September nun will Macron erneut direkt zu den Franzosen sprechen und ihnen darlegen, welche Schwerpunkte er in der zweiten Hälfte seiner fünfjährigen Amtszeit setzen will. Dazu gehören die Themen Ökologie, der Kampf gegen Ungleichheiten, Laizität und Immigration.Auch die geplante Rentenreform dürfte erneut zur Sprache kommen. Denn sie wird für Macron und seine Regierung zu einem Lackmustest, zu einer Prüfung, die weit schwieriger als die nun anstehende Umsetzung der Reform der Arbeitslosenversicherung und des öffentlichen Dienstes ist. Bisher hat jede Rentenreform in Frankreich zu heftigen Protesten geführt. Macron will jedoch noch weiter als seine Vorgänger gehen und die bisher existierenden 42 verschiedenen Rentensysteme durch ein universelles Rentensystem ersetzen. Dadurch würden auch die Privilegien für die sogenannten Spezialrenten wegfallen, die ursprünglich für besonders beschwerliche Tätigkeiten eingeführt wurden. Vor Macron haben schon etliche Regierungen versucht, sie abzuschaffen, doch sie scheiterten alle am Widerstand der Gewerkschaften. Die erste Demonstration gegen die nun geplante Reform ist bereits für den 16. September angesetzt.Es sei noch nichts entschieden, sagte Macron nun. “Wir werden diese Reform zusammen gestalten.” Angesichts der drohenden Proteste muss Macron der Bevölkerung und den Gewerkschaften das Gefühl geben, er beziehe sie mit ein. Für ihn, aber auch für Deutschland ist der Erfolg seiner Rentenreform unerlässlich, da Europa ein starkes Frankreich braucht. Sollte sie Macron gelingen, hätte er eine weit bessere Reformbilanz als Deutschland und Italien in den letzten Jahren. ——Von Gesche WüpperMacrons diplomatischer Erfolg beim G7-Gipfel verschafft ihm Spielraum, von dem er bei den nun geplanten Reformen zu profitieren hofft. ——