LEITARTIKEL

Die goldene Brücke

In ihrer 23-jährigen Geschichte hat die Welthandelsorganisation WTO schon die ein oder andere Krise hinter sich gebracht. Die Krawalle am Rande der WTO-Ministerkonferenz in Seattle 1999 läuteten den Beginn der Antiglobalisierungsbewegung ein. Die...

Die goldene Brücke

In ihrer 23-jährigen Geschichte hat die Welthandelsorganisation WTO schon die ein oder andere Krise hinter sich gebracht. Die Krawalle am Rande der WTO-Ministerkonferenz in Seattle 1999 läuteten den Beginn der Antiglobalisierungsbewegung ein. Die gescheiterte Doha-Verhandlungsrunde offenbarte, dass die Interessen von Entwicklungs- und Industrieländern zu unterschiedlich sind, um Handelshemmnisse auf multilateraler Ebene abzubauen. Die Finanzkrise 2007 führte dazu, dass nichttarifäre-Handelshemmnisse wie Subventionen, Sicherheits-, Umwelt- und Sozialstandards deutlich zunahmen. Doch keine dieser Krisen lastete so schwer auf der WTO wie die aktuelle. Durch die von den USA angezettelten Handelskonflikte und die Blockade des WTO-Streitschlichtungsmechanismus droht die Hüterin des Welthandels endgültig ihre Bedeutung zu verlieren.Um dies zu verhindern, ist eine Reform der Organisation dringend notwendig. Das scheinen auch die Politiker in Brüssel, Ottawa und Tokio zu begreifen. Gemeinsam arbeiten sie an Lösungsvorschlägen, wie man den Aufstieg Chinas besser mit den Welthandelsregeln vereinbaren, die WTO-Regeln ins 21. Jahrhundert heben und Washington von den Vorteilen einer multilateralen, regelbasierten Handelsordnung überzeugen kann. Die EU will im September dazu ein Treffen mit den Handelsministern der USA und Japans in Brüssel durchführen. Ottawa will im Oktober über eine WTO-Reform verhandeln – allerdings ohne die USA und China. Für Mitte November hat dann Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zu einem WTO-Reformgipfel geladen. Statt nur über eine WTO-Reform zu reden, scheinen die Politiker diesmal wirklich zu handeln. Solch eine Reform könnte den aktuellen Handelskonflikten ein Ende setzen; die sprichwörtliche goldene Brücke wäre damit gebaut. Doch wie könnte ein Kompromiss aussehen, mit dem alle Beteiligten leben können?Am wichtigsten wäre es, das Schiedsverfahren der WTO zu stärken, so dass die Gerichte schneller entscheiden können und deren Kompetenzen genauer umschrieben werden. Nur will US-Präsident Donald Trump eben diese Kompetenzen einschränken, während man sie in Wirklichkeit ausweiten müsste. Indem die USA ein Veto bei der Neubesetzung von Richterstellen einlegen, setzen sie quasi eigenhändig das WTO-Schiedsgericht außer Kraft. Beobachter vermuten, dass Trump zum Schiedsgerichtsmechanismus des WTO-Vorgängers GATT zurückkehren will. Damals konnten die Mitgliedstaaten bei jedem Urteil ein Veto einlegen. Das wäre ein Schritt zurück in eine Zeit, in der die Macht des Stärkeren regiert hat, statt der Macht des Rechts. Dass dem US-Präsidenten diese Weltordnung gefällt, überrascht nicht. Die EU und der Rest der Welt dürfen jedoch nicht zulassen, dass der 45. Präsident die multilaterale, regelbasierte Handelsordnung eigenhändig zerstört.Auch sonst müssen die Kapazitäten und Befugnisse der Institution am Genfer See dringend ausgeweitet werden. Aktuell beschäftigt ihr Sekretariat rund 600 Leute und hat ein jährliches Budget von 200 Mill. Dollar zur Verfügung. Zum Vergleich: Der Internationale Währungsfonds beschäftigt rund 2 400 Leute und hat ein Budget von 1 Mrd. Dollar, Kreditvergabemittel nicht einbegriffen. Außerdem muss ein exekutives Organ innerhalb der WTO geschaffen werden, das die Entwicklungen im Welthandel überwacht und die Konsensfindung unter den 164 Mitgliedern beschleunigt. Die Mitgliedstaaten sollten sich außerdem zu den Regeln der WTO bekennen. Diese folgen dem Prinzip der Nichtdiskriminierung: Handelserleichterungen, die einem Land angeboten werden, müssen auch allen anderen eingeräumt werden. Die EU könnte etwa eine neue, multilaterale Zollsenkungsrunde starten, statt in bilateralen Abkommen Zugeständnisse an einzelne Handelspartner auszusprechen. Es sollte heißen: niedrigere Zölle für alle statt für einige wenige, insbesondere im Agrarbereich.Je mehr bilaterale Abkommen abgeschlossen werden, desto komplizierter und verworrener werden die Regeln. Denn wenn diese in jedem Abkommen anders formuliert sind, sehen sich die Länder und Unternehmen mit einem schwer entwirrbaren Knäuel von Anforderungen konfrontiert – das kostet Zeit und Geld. Der Ökonom Jagdish Bhagwati hat dafür das Bild der “Spaghetti-Schüssel” geprägt. Bei multilateralen Abkommen gibt es solch ein Wirrwarr nicht. Außerdem erfordern globale Wertschöpfungsketten globale Regeln und Lösungen. Und es erfordert eine Streitschlichtung, die (kleinere) Volkswirtschaften vor Regelverletzungen schützt. Deswegen braucht es die WTO.—–Von Julia WacketÜber eine Reform der Welthandelsorganisation wird schon seit Jahren geredet – nun müssen den Worten endlich Taten folgen.—–