STREIT ÜBER INVESTITIONEN

Die große Austeritätskontroverse

Debatte über den richtigen Weg zwischen staatlichen Investitionen und Schuldendisziplin flammt auf

Die große Austeritätskontroverse

Das Coronavirus verstärkt die Sorgen um die ohnehin schwache Konjunktur. Das verleiht auch der Debatte über ein Investitionsprogramm Schwung. Die Kontroverse teilt Wissenschaft und Politik in zwei Lager. Milliardenüberschüsse und Schuldenabbau fachen sie nur weiter an.Von Stefan Reccius, FrankfurtEs sind Zahlen, die eine seit Monaten schwelende Debatte anheizen. 49,8 Mrd. Euro nahmen Bund, Länder, Gemeinden und Sozialkassen 2019 mehr ein, als sie ausgaben, teilte das Statistische Bundesamt zuletzt mit. Das ist weniger als der Rekordüberschuss von 62,4 Mrd. Euro im Jahr davor, macht aber 1,4 % des Bruttoinlandsprodukts aus. Die einen begrüßen, dass der Fiskus Kurs hält beim Rückbau seiner Staatsschulden unter die im Vertrag von Maastricht verabredete Grenze von 60 % (siehe Grafik). Für die anderen ist der Überschuss ein weiterer Beleg, dass die Bundesregierung falsche Prioritäten setzt und zu wenig in Straßen, Schienen und Schulen investiert. Indirekt stoßen die Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB), Christine Lagarde, und Kollegen aus dem EZB-Rat in dieses Horn, wenn sie wie Lagardes Vorgänger Mario Draghi Euro-Staaten mit “fiskalischem Spielraum” drängen, diesen stärker zu nutzen – freilich ohne Deutschland namentlich zu nennen.Die Kontroverse teilt Wissenschaft und Politik in zwei Lager. Das wurde zu Wochenbeginn bei einer Expertenanhörung im Bundestag einmal mehr deutlich. Kritiker des Austeritätsbeharrens wie der frühere Wirtschaftsweise Peter Bofinger fordern den Primat strikter Schuldendisziplin heraus und plädieren für Milliardeninvestitionen und eine flexiblere Auslegung selbstauferlegter Verschuldungsregeln. Fiskalkonservative wie der Wirtschaftsweise Volker Wieland und der Bundesrechnungshof halten ein Aufweichen der Schuldenbremse für ein Sakrileg.Kaum einer polarisiert in dieser Debatte so wie Michael Hüther (siehe Interview auf dieser Seite). Seit der Chef des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) die Idee eines 450 Mrd. Euro schweren Investitionsfonds ventilierte, arbeiten sich Ökonomen und Verbände, Politiker und Kommentatoren an dem Konzept ab. Familienunternehmer und Außenhandelsverband BGA geißelten Hüthers Vorschlag jüngst als “die geschickt verpackte Rückkehr in den Schuldenstaat”. In einer Allianz mit dem Steuerzahlerbund fordern sie nun “ein klares Bekenntnis zur Schuldenbremse”. Die Frontlinien verlaufen inzwischen quer durch die Wirtschaft, erhielt Hüther doch Beifall von einer ungewöhnlichen Allianz aus Industrievertretern und Gewerkschaftern. Seine Kritiker argumentieren mit der Sorge um Generationengerechtigkeit und verantwortungsvolles Wirtschaften. Außerdem stünden Milliarden an Fördergeldern bereit, die nicht abgerufen würden. Auch Ifo-Chef Clemens Fuest wirbt für einen Investitionsfonds, will den aber durch Umschichtungen im Haushalt finanzieren statt durch neue Schulden.Wesentliche Posten in Hüthers Rechnung für die nächste Dekade sind: 138 Mrd. Euro für Projekte in den Kommunen, jene Summe, mit der die Förderbank KfW den kommunalen Sanierungsstau beziffert; 85 Mrd. Euro für die Verbesserung der frühkindlichen Bildung sowie Ausbau und Betrieb von Ganztagsschulen; 20 Mrd. Euro für Busse und Bahnen im Nahverkehr, 60 Mrd. Euro für den Fern- und Güterverkehr der Deutschen Bahn und 20 Mrd. Euro für die Sanierung von Fernstraßen; dazu jährlich 2,5 Mrd. Euro zusätzlich für Hochschulen und Forschung, 1,5 Mrd. Euro für den Wohnungsbau und 7,5 Mrd. Euro für die Dekarbonisierung der deutschen Wirtschaft, um die CO2-Emissionen bis 2050 gegenüber 1990 wie angepeilt um 95 % zu senken; und für den flächendecken Breitband- und 5G-Ausbau veranschlagt Hüther öffentliche Ausgaben von 20 Mrd. Euro. Macht unter dem Strich 450 Mrd. Euro – und das sei konservativ gerechnet. Sachverständigenrat uneinsAuch im Jahresgutachten der fünf Wirtschaftsweisen sorgte das Thema für Zwist. Achim Truger und Isabel Schnabel, inzwischen EZB-Direktorin, verwiesen in einem Minderheitenvotum auf “konzeptionelle Probleme der Schuldenbremse, die längerfristig für eine Reform sprechen”. Auch halten sie es für “sinnvoll, bestehende Spielräume pragmatisch zu nutzen, um konjunkturelle Flexibilität zu bewahren und den erheblichen Investitionsbedarf zu decken”.Rufe nach einem Konjunkturpaket waren zwischenzeitlich verstummt, weil Deutschland einer technischen Rezession – also zwei aufeinanderfolgenden Quartalen mit schrumpfender Wirtschaftsleistung – im Herbst entgangen ist. Nun dürften sie wieder lauter werden: Denn eine tiefere Rezession ist, wie auch in anderen großen Volkswirtschaften, angesichts der konjunkturellen Folgen der Coronavirus-Epidemie nicht mehr nur das Worst-Case-Szenario von Schwarzsehern. Der Debatte um Investitionen und Schuldendisziplin liefert das zusätzliche Nahrung.