ANSICHTSSACHE

Die irrlichternde Suche nach Inflation

Börsen-Zeitung, 9.6.2018 Wie sich die Zeiten doch ändern: Eine jahrelange Phase absoluter Preisstabilität wäre noch vor einiger Zeit als großer Erfolg der verantwortlichen Notenbank gefeiert worden. Nicht jedoch in der Welt von heute. So wird eine...

Die irrlichternde Suche nach Inflation

Wie sich die Zeiten doch ändern: Eine jahrelange Phase absoluter Preisstabilität wäre noch vor einiger Zeit als großer Erfolg der verantwortlichen Notenbank gefeiert worden. Nicht jedoch in der Welt von heute. So wird eine seit mittlerweile fünf Jahren unter 2 % liegende Teuerungsrate von der Europäischen Zentralbank (EZB) trotz eines zeitgleich stattfindenden Wirtschaftsaufschwungs als derart große Bedrohung wahrgenommen, dass widernatürliche Negativzinsen und geldpolitische Notmaßnahmen bis zum heutigen Tag beibehalten werden. Der Grund: Eine sich gegenseitig verstärkende Abwärtsspirale von Preisen und der Wirtschaftsaktivität sei mit allen Mitteln zu verhindern. Der Haken hieran: Diese Betrachtungsweise krankt an einer Überbetonung des Deflationsrisikos und einer unvollständigen Messung der Inflation. Oder frei nach Berti Vogts: “Wir haben ein Wahrnehmungsproblem – das müssen wir automatisieren.” Deflationsangst unbegründetZunächst zur Fehlinterpretation des Deflationsrisikos: Die Diskussion um eine mögliche deflatorische Abwärtsspirale erinnert ein wenig an den Scheinriesen aus der Augsburger Puppenkiste. Die Babyboomer mögen sich erinnern: Die aus der Ferne als Riese wahrgenommene Figur Herr Tur Tur wird mit Näherkommen immer kleiner. Ähnliches gilt beim Thema Deflationsängste: Hier wird stets an die desaströse Erfahrung der großen Depression vor mittlerweile fast einem Jahrhundert erinnert. Dabei wird aber gerne eine Analyse der Baseler Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) von 2015 übersehen, die auf Basis einer Untersuchung über 38 Länder seit 1870 herausgefunden hat, dass der statistische Zusammenhang zwischen Deflation und schrumpfender Wirtschaftsaktivität schwach ausgeprägt ist. Für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg existiert er gar nicht. Auch die Deutsche Bundesbank analysierte bereits 1997 eine Asymmetrie: Die Wohlfahrtsverluste einer zu hohen Inflation seien groß, während die einer geringen oder negativen Rate dagegen klein ausfielen. Beide Studien relativieren deutlich die von absolut stabilen oder auch etwas sinkenden Preisen ausgehende Gefahr. Und überhaupt, Preisstabilität bedeutet im mathematisch-statistischen Sinne null. Punkt. Hinzu kommt – und vielleicht noch schwerwiegender ist – eine Fehlmessung der offiziellen Teuerungsraten. Denn bei der Berechnung der Inflation in der Eurozone werden zwei wichtige Faktoren ausgeblendet, und eine mehr und mehr fragwürdig erscheinende Bereinigungsmethode wird angewendet. Der erste fehlende Faktor sind die Kosten für selbst genutztes Wohneigentum. Während dieser Block allein in den USA einen Anteil von bis zu 30 % am Warenkorb ausmacht, klammert das europäische Statistikamt Eurostat diese bedeutende Ausgabenkomponente unter anderem aus methodischen Gründen komplett aus. Eine Einbeziehung würde den offiziell für Euroland ausgewiesenen Preisanstieg um mindestens 0,3 Prozentpunkte höher ausfallen lassen. Der zweite ausgeblendete Faktor sind Vermögenspreise. In der volkswirtschaftlichen Analyse werden Finanzmarkt- und Konjunkturzyklus schon lange simultan betrachtet, und die große Finanzmarktkrise vor zehn Jahren hat schmerzhaft vor Augen geführt, wie stark die Rück- und Wechselwirkungen auf die Realwirtschaft sein können. Laut der bereits zuvor zitierten BIZ-Studie geht vom Finanzzyklus die größte und wahre Gefahr eines Abwärtsstrudels aus. Mit der Übertragung der sogenannten makroprudenziellen (Finanzmarkt-)Aufsicht in die Notenbanken wurde dem Rechnung getragen. Umso bizarrer erscheint daher, dass Vermögenspreise bei der offiziellen Inflationsmessung, die das Primat für das geldpolitische Handeln der Zentralbank darstellt, ausgeblendet werden. Einigen Berechnungen zufolge läge die Teuerungsrate in der Eurozone bei Inklusion in der Größenordnung von fünf und nicht bei rund eineinhalb Prozent. Statistik täuschtSchließlich führt auch die weitläufig von den statistischen Ämtern angewendete “hedonische Qualitätsbereinigung” zu niedriger ausgewiesenen Preisen. Vielen Verbrauchern mag es bekannt vorkommen: Ersetzen sie ein technologisches Gerät wie ein Notebook, Smartphone oder etwa einen Fernseher, so kostet das neue oftmals (etwas) mehr als das Vorgängermodell. Die Neuanschaffung ist sicherlich leistungsfähiger als das alte Gerät, dem steht aber gegenüber, dass aufgrund der immer kürzer werden technologischen Zyklen die Lebens- oder Nutzungsdauer der Güter abnimmt. Die Frequenz der Neuanschaffung steigt. All dies führt dazu, dass der Geldbeutel der Verbraucher stärker belastet wird. In der Statistik schlägt sich die Qualitätsverbesserung aber in Form eines Preisrückgangs nieder. Die Ratio: Ein zehn Prozent teureres Gerät, das aber zwanzig Prozent mehr kann als das Vorgängermodell, ist letztlich günstiger für den Konsumenten geworden – man bekommt mehr fürs Geld. So die statistische Sichtweise, die sich allerdings mehr und mehr mit der budgetären Erfahrung der Konsumenten beißt. In der Grauzone des MandatsDas Fatale an dieser Situation wird an der verkürzten Zusammenfassung deutlich: Aus deutlich überzogener Furcht vor deflatorischen Wirtschaftsrisiken und unter Zugrundelegung einer systematisch nach unten verzerrten Teuerungsrate fährt die EZB in den letzten Jahren einen unangemessen expansiven geldpolitischen Kurs. Sie bewegt sich in der Grauzone ihres Mandatsrahmens und hat sich dadurch absehbar ein Infragestellen ihrer Legitimierung als politisch unabhängige Institution eingebrockt. Es ist daher Zeit für eine holistischere Preiserfassung und allerhöchste Eisenbahn für ein Umsteuern in der Geldpolitik.—-Ingo R. Mainert ist CIO Multi Asset Europe bei Allianz Global Investors in Frankfurt. In dieser Rubrik veröffentlichen wir Kommentare von führenden Vertretern aus der Wirtschafts- und Finanzwelt, aus Politik und Wissenschaft.—–Von Ingo R. MainertDie Geldpolitik der EZB fußt auf einer systematischen Fehlmessung der Teuerung und ist deshalb seit Jahren unangemessen expansiv.—–