LEITARTIKEL

Die neue alte EU-Kommission

Von wegen amtsmüde: Die amtierenden EU-Kommissare zeigen sich kurz vor ihrem Abgang Ende Oktober noch einmal voller Arbeitseifer. Der scheidende EU-Wettbewerbskommissar Joaquín Almunia nutzt seine letzten Brüsseler Arbeitstage, um sich mit Luxemburg...

Die neue alte EU-Kommission

Von wegen amtsmüde: Die amtierenden EU-Kommissare zeigen sich kurz vor ihrem Abgang Ende Oktober noch einmal voller Arbeitseifer. Der scheidende EU-Wettbewerbskommissar Joaquín Almunia nutzt seine letzten Brüsseler Arbeitstage, um sich mit Luxemburg anzulegen und die Steuerpraktiken des Großherzogtums an den Pranger zu stellen. Und vieles spricht dafür, dass der amtierende Stabilitätspakthüter Jyrki Katainen – der kommissarische Kommissar für Wirtschaft und Währung – Ende Oktober quasi als letzte Amtshandlung vor Amtsübergabe an Pierre Moscovici erstmals Haushaltsentwürfe zur Überarbeitung in eine Hauptstadt zurücksendet – wahrscheinlich den französischen und den italienischen.Man könnte meinen, die alte EU-Kommission sei deshalb so emsig, weil sie ihrer Nachfolgerin misstraut. Es gibt nicht wenige Spekulationen, die behaupten, dass Almunia schnell noch Luxemburg attackiere, bevor dies der Luxemburger Jean-Claude Juncker verhindern könne, – und dass sich Katainen Frankreich vorknöpfe, bevor sich der Franzose Moscovici schützend vor sein Heimatland stellen könne. Das mag plausibel klingen, ist aber Unfug.Denn es ignoriert die Tatsache, dass sich alte und neue EU-Kommissare längst inhaltlich abstimmen – und viel mehr mit- als gegeneinander arbeiten. Das liegt allein schon daran, dass zwar EU-Kommissare ausgetauscht werden, nicht jedoch Generaldirektoren und Abteilungsleiter. Insofern ist die Vorstellung jäher politischer Richtungswechsel in der EU-Kommission fern der Brüsseler Realität, denn selbst ambitionierte EU-Kommissare haben seit jeher ihre liebe Mühe, die ihnen anvertrauten Verwaltungen umzusteuern.Andersherum wird vielmehr ein Schuh draus. Vieles spricht dafür, dass Juncker völlig einverstanden, wenn nicht sogar dankbar ist, dass EU-Wettbewerbshüter Almunia den künftigen EU-Kommissionschef davor bewahrt, als eine der ersten Maßnahmen des neuen Kollegiums eine Untersuchung gegen Luxemburg zu starten. Und wahrscheinlich ist Moscovici seinem finnischen Vorgänger ebenfalls alles andere als gram, wenn Katainen – und nicht Moscovici selbst – Frankreichs Regierung öffentlich vorführen muss, indem er Nachbesserungen an deren Haushaltsentwurf verlangt.Wirklichkeitsfremd sind andererseits Mutmaßungen darüber, die neuen EU-Kommissare säßen in den Startlöchern, um so schnell wie möglich alles das wieder zurückzudrehen, was ihre Vorgänger initiiert und abgeschlossen haben. So hat sich etwa der designierte Finanzmarktkommissar Jonathan Hill in einer so ausdrücklichen Art und Weise zur Fortführung der Gesetzesinitiativen seines Vorgängers Michel Barnier bekannt, dass man zwischenzeitlich den Eindruck gewinnen konnte, Hill sei nicht der Nachfolger, sondern der englische Übersetzer des Franzosen. Auch knüpfte etwa die Dänin Margrethe Vestager in vielen Punkten nahtlos an den Kurs ihres Vorgängers Almunia an. Kurzum: Mehrere Anhörungen von Kommissarsanwärtern verstärken den Eindruck der Kontinuität – nicht das Signal eines Kurswechsels.Enttäuschend ist die Rolle, die das Europäische Parlament in diesem Zusammenhang gespielt hat. Die Institution, die für sich beansprucht, das eigentliche Herzstück des vereinigten Europa zu sein, hat aus kurzsichtigen, taktischen Motiven gängige nationale Ressentiments befördert. Franzosen wissen nicht, wie solide Haushaltspolitik geht. Briten sehen nicht ein, dass Märkte gezügelt werden müssen. Mit vielen ihrer Fragen – und noch mehr: mit vielen ihrer anschließend ausgesendeten, aber anscheinend schon vor den Hearings verfassten Presseerklärungen – haben Europaabgeordnete gezeigt, dass ihnen die Antworten der Bewerber ziemlich schnuppe waren, da sie das (Vor-)Urteil ohnehin schon gefällt hatten.Ab heute wird sich klären, ob alle vorgeschlagenen Kandidaten tatsächlich in den nächsten fünf Jahren europäische Politik mitentscheiden – und ob die laute Aufregung über einzelne Kandidaten letztlich nur Theater für die Galerie war. Schon jetzt lässt sich indes absehen, dass die neue EU-Kommission dort weitermachen wird, wo die alte EU-Kommission aufhört. Gewiss wird es Akzentverschiebungen geben. Eine der bedeutendsten könnte sein, dass die neue EU-Kommission nicht mehr so kleinteilig arbeitet wie ihre Vorgängerin, sondern sich auf größere Aufgaben konzentriert. Niemand aber braucht zu befürchten (oder zu hoffen), dass künftig keine Verordnungen, Grünbücher oder Förderprogramme mehr aus Brüssel kommen.——–Von Detlef FechtnerDie Vorstellung jäher politischer Richtungswechsel in der EU-Kommission ist fern der Brüsseler Realität.——-