Die neue Tektonik der Teuerung

Globale Effekte halten Inflation im Zaum - EZB setzt Glaubwürdigkeit aufs Spiel

Die neue Tektonik der Teuerung

Von Stephan Lorz, Frankfurt”Die Inflation ist tot. Sie ist so tot wie ein rostiger Nagel”, sagte Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller 1968 im Brustton der Überzeugung. Kurze Zeit später stach der Nagel heftig zu. Erst seit Mitte der achtziger Jahre hatten die Notenbanken die Inflation wieder im Griff. Seither scheint sie keine Gefahr mehr darzustellen. Vielmehr kam es nach der Finanz- und Schuldenkrise kurz zu einer Panik wegen einer drohenden Deflation. Seither waren alle Bestrebungen im Euroraum noch stärker darauf ausgerichtet, die Inflation wieder an das Preisziel der Europäischen Zentralbank (EZB) von knapp unter 2 % heranzuführen, was bisher kaum gelungen ist – selbst unter Aufbietung aller Kräfte nicht. Ist die Inflation also tot wie ein rostiger Nagel?Ökonomen lässt dieses Phänomen an ihrem bisherigen Lehrbuchwissen zweifeln, wie ein Roundtable des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), der DekaBank und der Börsen-Zeitung offenbarte. IW-Direktor Michael Hüther wundert sich, dass die Kerninflation kaum Bewegung zeigt. Die üblichen Mechanismen und klassischen Erklärungsmuster, die bei stärkerer Kapazitätsauslastung inflationäre Zweitrundeneffekte erwarten lassen, funktionierten offenbar nicht mehr so richtig, wundert er sich.Deka-Chefvolkswirt Ulrich Kater beobachtet, dass die Inflationserwartungen über alle Entwicklungen hinweg zudem “so fest verankert sind wie nie zuvor”. Die Glaubwürdigkeit der EZB, an der die Inflationserwartungen hängen, sei also ausgesprochen hoch. Es gebe bei den Preisschwankungen außerdem seit einiger Zeit eine “stärkere Symmetrie sowohl nach oben wie nach unten als jemals zuvor”. Etwas habe sich also grundlegend verändert, meint auch er, verweist auf Digitalisierung, Globalisierung, Demografie und die Entwicklung der Finanzmärkte.Die Ökonomen sollten sich Kater zufolge deshalb weniger Sorgen über Inflationsprozesse machen als über andere Quellen der wirtschaftlicher Instabilität. Dabei richtet er seinen Blick vor allem auf den Finanzmarkt. Denn dessen Stabilität werde durch die niedrigen Zinsen besonders herausgefordert.Darum stellt sich nach Meinung von Kater auch die Frage, wie lange die EZB ihre Dominanz über die Zinsen noch aufrechterhalten kann, will sie weitere strukturelle Schäden vermeiden. Denn mit der anhaltenden Niedrigzinsphase ändert sich die Tektonik der Volkswirtschaften. Reinhold Schulte, Aufsichtsratsvorsitzender der Signal Iduna, sprach von finanzieller Repression, von nicht mehr tragfähigen Geschäftsmodellen ganzer Sektoren und von einem Mentalitätswandel überall in der Gesellschaft, wie er sich etwa schon im Sparverhalten der Menschen abzeichne.Daniel Gros, Direktor am Brüsseler Centre for European Policy Studies (CEPS), sieht die EZB mit ihrem derzeitigen Kurs zudem auf einem gefährlichen Weg in die Abhängigkeit von der Politik. Das zeigt sich in seinen Augen schon im Verhalten der Notenbank, die aktuelle Geldpolitik unter allen Umständen zu verteidigen und dafür auch jedes Argument herzunehmen.Zuletzt hatte die EZB etwa in einer Studie darauf hingewiesen, dass die Jobmarktschwäche in der Eurozone womöglich größer ist, als offizielle Daten zeigen. Die Notenbank verweist hierzu auf die Gruppe der Teilzeitbeschäftigten, die eigentlich mehr arbeiten wollten. Die Arbeitsmarktstatistik sei hier unzureichend. Gros führte indes die Partizipationsrate im US-Arbeitsmarkt an, die inzwischen deutlich unter der im Euroraum liegt. Und trotzdem steige die amerikanische Notenbank aus ihrer ultralockeren Geldpolitik aus.Ohnehin müsste die Notenbank ihr Verhalten im Hinblick auf die Inflation mehr vom BIP-Deflator der Gesamtwirtschaft abhängig machen als vom traditionellen Inflationsindikator. Denn das Festhalten an einem fehlweisenden Indikator habe massive Auswirkungen auf das Timing von EZB-Entscheidungen. Gros: “Die Geldpolitik läuft manchmal völlig gegenläufig zu dem, was eigentlich nötig wäre.”Nach seiner Einschätzung sind es die global wirkenden Faktoren, welche die Inflation im Zaum halten. Und deshalb haben in seinen Augen auch alle noch so intensiven Anstrengungen der EZB keine nachhaltige Wirkung. Allenfalls um 50 Basispunkte, so Gros, wären die Zinsen ohne die unkonventionelle Geldpolitik der EZB höher. Gros: “Die EZB kann so viel strampeln, wie sie will, und nichts passiert.”Auf die Schuldentragfähigkeit der Euro-Staaten hätten die Anleihekäufe (Quantitative Easing, QE) aber sehr wohl eine Wirkung. Immerhin stehe in den Notenbankbilanzen teilweise schon ein Fünftel der Staatsschulden einiger Staaten. “In Europa machen die Anleihekäufe wenig Sinn und stellen mehr Fiskal- als Geldpolitik dar”, meint Gros deshalb und warnt vor Interessenkonflikten und politischen Abhängigkeiten.Denn je mehr Staatsanleihen die Notenbanken halten würden, desto stärker wirkten Zinsentscheidungen direkt auf die Finanzierungskonditionen der Länder durch. QE und die Geldpolitik bekämen insofern mehr den Charakter eines nationalen Schuldenmanagements. Und öffneten bei den Notenbanken die Flanke zur politischen Einflussnahme. Gros: “Die arme EZB sitzt in der Falle.”Dieser Zustand könnte dann natürlich wieder “inflationsfördernd” wirken, weil das Vertrauen in die EZB beschädigt wird, welches die Inflationserwartungen verankert. “Mit der fiskalischen Dominanz”, meint Kater, “könnte die Erosion der Glaubwürdigkeit der EZB beginnen.” Aber derzeit hätten die Notenbanken noch einmal Glück, weil die konjunkturelle Lage so gut ist und die politischen Risiken wegschmelzen.