LEITARTIKEL

Die neue Zoll-Normalität

Einen Monat lang haben Übersetzer und Juristen in Washington und Peking an jeder Formulierung gefeilt. Am Mittwoch soll der Handelspakt zwischen den beiden größten Volkswirtschaften der Welt reif zur Unterschrift sein. Sorgt US-Präsident Donald...

Die neue Zoll-Normalität

Einen Monat lang haben Übersetzer und Juristen in Washington und Peking an jeder Formulierung gefeilt. Am Mittwoch soll der Handelspakt zwischen den beiden größten Volkswirtschaften der Welt reif zur Unterschrift sein. Sorgt US-Präsident Donald Trump nicht aus einer Twitter-Laune heraus für eine Kehrtwende, was ihm zweifellos zuzutrauen ist, wird er das Teilabkommen diese Woche im Weißen Haus mit Chinas Vizepremier Liu He unterzeichnen.Von Trumps üblichen Superlativen (“größter Deal aller Zeiten”) sollte man sich nicht täuschen lassen: Das sogenannte Phase-1-Abkommen im Handelsstreit ist kein Friedensschluss, sondern bestenfalls ein Waffenstillstand. Noch dazu einer, der ohne Alternative ist, will Trump nicht seine Wiederwahlchancen im November ruinieren: Laut Internationalem Währungsfonds würde eine weitere Eskalation die US-Wirtschaft 0,8 Prozentpunkte Wachstum kosten. Im Präsidentschaftswahljahr wäre das politischer Selbstmord.Zwar ist das 86 Seiten lange Dokument noch unter Verschluss. Aber schon ein Blick auf die bereits bekannten Eckpunkte verrät, dass von Handelsfrieden keine Rede sein kann. Ein substanzieller Abbau von Zollschranken ist zunächst nicht geplant. Die gegenseitigen Importzölle sinken nur marginal, weit mehr als die Hälfte des Handelsvolumens bleibt mit Zöllen belegt. Das amerikanische Handelsdefizit mit der Welt ist im November auf 43,1 Mrd. Dollar gesunken, den niedrigsten Stand in Trumps Amtszeit. Chinas Exportüberschuss im bilateralen Handel mit den USA dürfte aufs gesamte Jahr 2019 gerechnet um ganze 70 Mrd. Dollar niedriger ausfallen als 2018. Zweifellos wird der Dealmaker im Weißen Haus, der Importe und Exporte wie eine Unternehmensbilanz liest, sich bestätigt sehen: Schaut her, meine Rechnung geht auf!Umso besorgter müssen andere große Industriestaaten sein, wieder stärker in Trumps Fadenkreuz zu geraten, namentlich Deutschland und Frankreich. Denn der amerikanische Passivsaldo aus Im- und Exporten mit der Europäischen Union ist 2019 aller Voraussicht nach auf ein Allzeithoch gestiegen. Trump droht mit Strafzöllen auf Autos und französische Spezialitäten. Fatal wäre es, darauf zu hoffen, dass er blufft. Er hat zum erstbesten Zeitpunkt das Pariser Klimaabkommen verlassen. Er hat das Atomabkommen mit dem Iran aufgekündigt. Er hat die Berufungsinstanz der Welthandelsorganisation (WTO) ausbluten lassen.Schritt für Schritt wirft Trump so eine internationale Ordnung über den Haufen, die sein Land maßgeblich aufgebaut hat. Ähnlich radikal gingen die USA nur vor, als sie Anfang der 1970er Jahre den Goldstandard abschafften, die Bindung des Dollar an die eigenen Goldreserven. Die Lehre: Aus solchen Abbrucharbeiten entsteht nicht automatisch eine neue Ordnung. Sondern erst einmal: gar keine. Der Goldpreis geriet in den freien Fall, Wechselkurse taumelten. Und heute? Der Welthandel geht allmählich zurück. Das Gift des Handelskriegs wirkt schleichend, aber es wirkt.Trump legt tektonische Verschiebungen offen, deren Ursachen tiefer liegen. Drei Jahrzehnte war Amerika der Hegemon, die politische wie ökonomische Supermacht. Wie gigantische Erdplatten sich langsam übereinander schieben und Erdbeben auslösen, rückt China wirtschaftlich den USA immer näher. Nur dass dieser Prozess nicht Jahrtausende, sondern wenige Jahrzehnte dauert. Mitte bis Ende dieses Jahrzehnts könnte das 1,4-Milliarden-Volk nominal ein höheres Bruttoinlandsprodukt erwirtschaften als die USA.Künftig geht es darum, wer international die Normen setzt. Wer die globalen Standards vorgibt. Wer die Regeln bestimmt. Freie Marktwirtschaft gegen Staatskapitalismus. Wettbewerb gegen Subventionen. Ein neues Duell der Großmächte ersetzt die Stabilität der unipolaren Weltordnung. Das Siechtum der Sowjetunion zog sich über Jahre hin, ihr Ende war absehbar. China hingegen mag an Wachstumstempo verlieren, aber im gegenwärtigen Systemwettbewerb zeichnet sich kein Sieger ab – und damit auch kein Ende der (bislang vorwiegend ökonomisch ausgetragenen) Feindseligkeiten. Das wahrscheinlichste Szenario ist, dass die Weltwirtschaft in zwei Blöcke zerfällt. Für die verunsicherte Europäische Union, die bald um ihr nach Wirtschaftskraft zweitstärkstes Mitglied ärmer ist, und das exportabhängige Deutschland mit seinen Absatzmärkten in allen Teilen der Welt ist das eine sehr gefährliche Situation.All das zeigt: Der Handelskrieg wird durch den Waffenstillstand nicht im Ansatz entschärft, geschweige denn befriedet. Es werden sich allenfalls vorübergehend die Fronten verlagern. In Zeiten der Twitter-Diplomatie ist die nächste Eskalation nur 280 Zeichen entfernt.——Von Stefan RecciusDer Waffenstillstand zwischen den USA und China schafft keinen Handelsfrieden. Das Abkommen ist nur eine Episode im neuen Duell der Supermächte.——