Die riskante Wandlung der EZB
Am Freitag besteht die Europäische Zentralbank genau 20 Jahre. In dieser Zeit hat sie einen dramatischen Wandel vollzogen – teils erzwungen und teils mit vielen Risiken. Dazu eine Bilanz – und ein Interview mit Gründungs-Chefvolkswirt Otmar Issing.Von Mark Schrörs, FrankfurtDie US-Notenbank Fed existiert in diesem Jahr 105 Jahre, die Bank of Japan 136 Jahre, die Bank of England immerhin 324 Jahre und die schwedische Riksbank – die älteste Zentralbank der Welt – feiert 2018 sogar ihr 350-jähriges Bestehen. Dagegen nehmen sich die 20 Jahre, die die Europäische Zentralbank (EZB) jetzt besteht, doch relativ bescheiden aus. Aber dafür blickt die EZB auf eine umso bewegtere Geschichte zurück. Start unter Duisenberg Angefangen hat alles am 1. Juni 1998. An dem Tag nahm die EZB als Nachfolgerin des Europäischen Währungsinstituts (EWI) ihre Arbeit auf – unter Führung des Niederländers Wim Duisenberg. Zum 1. Januar 1999 wurde der Euro als Buchgeld eingeführt. Den ersten Leitzins für die zu dieser Zeit elf Euro-Länder setzte der EZB-Rat damals auf 3,0 %.Das “vorrangige Ziel” des Eurosystems, bestehend aus EZB und den nationalen Zentralbanken, ist seit dem ersten Tag Preisstabilität. So legt es der EU-Vertrag fest. 1998 definierte der EZB-Rat Preisstabilität als eine mittelfristige Inflationsrate “von unter 2 %”. 2003 erklärte der EZB-Rat, dass er darauf abziele, “mittelfristig eine Preissteigerungsrate von unter, aber nahe 2 % beizubehalten”. Das gilt seitdem als Ziel. Gemessen daran, hat er geliefert: Die durchschnittliche Inflationsrate seit Anfang 1999 liegt bei 1,7 %. “Die EZB hat also bislang für stabilere Preise gesorgt als die Bundesbank zu ihrer Zeit”, sagte Ex-EZB-Präsident Jean-Claude Trichet bereits im Mai 2016 im Interview der Börsen-Zeitung (vgl. BZ vom 10.5.2016). Wenngleich das offizielle Mandat stets gleich geblieben ist, hat die EZB anno 2018 mit der Institution 1998 nicht mehr viel zu tun. Vor allem seit Ausbruch der Weltfinanzkrise 2007 hat die EZB einen extremen Wandel vollzogen – weg von der allein auf Preisstabilität ausgerichteten, technokratisch geprägten Zentralbank hin zu einem zentralen, wenn nicht dem zentralen Akteur im Euroraum. Kaum etwas ging und geht noch ohne die EZB: Sie pumpte Liquidität in die Banken und diktierte als Teil der “Troika” die Spar- und Reformauflagen in den Euro-Krisenländern. Die EZB überwacht mittels des Systemrisikorats ESRB das Euro-Finanzsystem als Ganzes und ist seit 2014 auch Aufseherin über die wichtigsten Euro-Banken. Mit wenigen Worten – “whatever it takes” – nahm EZB-Präsident Mario Draghi 2012 den Märkten die Angst vor einem Auseinanderbrechen der Eurozone und mit den Staatsanleihekäufen (Quantitative Easing, QE) seit Frühjahr 2015 drückt sie die Zinslast der Staaten. In einige neue Rollen ist die EZB natürlicherweise gerutscht. Als ein Finanzkollaps drohte, war es an ihr, Liquidität in die Märkte zu pumpen. In andere Rollen schlitterte die EZB, weil die Politiker lange nicht entschieden genug reagierten. Sie rückte dabei mindestens in die Grauzone zwischen Geld- und Fiskalpolitik. Jürgen Stark, von 2006 bis Ende 2011 Chefvolkswirt der EZB, sagte indes einmal, dass sich die EZB mitunter auch bereitwillig habe vereinnahmen lassen. “Vielen scheint die neue Macht zu gefallen”, so Stark.Die gestiegene Macht aber hat ihren Preis: Wo die Notenbanker früher im Stillen agierten, stehen sie heute mitten im politischen Kampfgetümmel. Wo sie früher ein eng fokussiertes Mandat hatten – stabile Preise – geht es nun oft gleichzeitig um Preisstabilität, Finanzstabilität, Bankenaufsicht und Euro-Rettung. Das aktuelle politische Chaos in Italien, in dem sich viele Blicke wieder auf die EZB richten, veranschaulicht das auf ebenso eindrucksvolle wie gefährliche Weise.Eine große Gefahr dabei ist die zunehmende Politisierung der EZB. Nicht nur Bundesbankchef Jens Weidmann sorgt sich um die Unabhängigkeit. Ein anderes Risiko ist, dass die EZB Hoffnungen weckt, die sie nicht erfüllen kann. Für die EZB geht es bei all dem um ihre Reputation.Vor allem in Deutschland stehen die EZB und Draghi selbst im Kreuzfeuer. Immer wieder landet die EZB-Politik vor dem Bundesverfassungsgericht – so wie aktuell QE. Immer wieder gibt es teils harsche Kritik aus der Politik – so wie 2016, als der damalige Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble die EZB sogar mitverantwortlich machte für den Aufstieg der AfD. Und immer wieder kommt der größte Widerspruch im Rat von Bundesbankchef Weidmann.Dahinter steckt auch die Kritik, dass Draghi die EZB, einst in der Tradition der Bundesbank konzipiert, zu einer Kopie der US-Notenbank, quasi zu einer Fed 2.0, gemacht habe. “Mit der Ausnahme, dass die EZB nach wie vor ihren Sitz in Frankfurt hat, ist an deutscher Prägung nichts mehr erkennbar”, sagte Ex-EZB-Chefvolkswirt Stark der Börsen-Zeitung im Frühjahr 2017 (vgl. BZ vom 26.5.2017). Geteiltes Bild in EurolandDagegen dominiert vor allem in der angelsächsischen Finanzwelt und der Euro-Peripherie der positive Blick auf die EZB und “Super-Mario”, der im November 2011 auch deshalb an die EZB-Spitze rücken konnte, weil sich sein Konkurrent Axel Weber, damals Bundesbankchef, zuvor selbst aus dem Rennen genommen hatte. In einigen Euro-Peripherie-Ländern ist die Kritik sogar eher, dass Draghi und die EZB nicht mehr tun oder nicht schon früher aggressiver gehandelt haben.Die große Frage ist nun aber, wie es weitergeht – kurzfristig wie auch mittel- und langfristig. Zuletzt steuerte die EZB zumindest auf ein Ende ihres QE-Programms zum Jahresende 2018 zu. Die globalen Handelsstreitigkeiten und die Italien-Krise nähren nun aber schon wieder Spekulationen, die Euro-Hüter könnten doch noch länger daran festhalten – wenngleich sie bei QE zunehmend an selbst gesetzte Grenzen stoßen. Tatsächlich ist die Zeit mindestens für ein Ende von QE mehr als reif.Offen ist auch die weitere Entwicklung: Draghi reklamiert für sich, die EZB modernisiert zu haben. Wenn sich die Welt verändere, wie infolge der Weltfinanzkrise geschehen, müsse sich auch die Geldpolitik verändern, ohne sich von überkommenen Paradigmen bremsen zu lassen, sagte er einmal. Der scheidende EZB-Vizepräsident Vítor Constâncio sagte Anfang Mai sogar, die EZB sei nun eine “moderne” und “effektive” Zentralbank geworden, für die etwa breite Wertpapierkäufe zum Instrumentenkasten gehören. Mindestens einige EZB-Ratsmitglieder dürften sich dagegen wünschen, dass die EZB wieder stärker den Weg zurück zur “alten Normalität” der Geldpolitik findet. Nicht zuletzt Bundesbankpräsident Weidmann hält wenig von QE und warnt davor, bewährte Grundsätze der Geldpolitik voreilig über Bord zu werfen. Im November 2019 könnte Weidmann Draghi beerben.