IM INTERVIEW: PHILIPP HILDEBRAND

"Die Schulden dürfen nicht ins Uferlose steigen"

Der BlackRock-Vize und Anwärter auf die OECD-Spitze mahnt Staaten zur Vorsicht, dämpft Sorgen vor einer Pleitewelle und warnt vor steigender Inflation

"Die Schulden dürfen nicht ins Uferlose steigen"

Herr Hildebrand, zweite Coronawelle und Lockdown 2.0 auf der einen Seite, große Impfstoffhoffnung auf der anderen Seite: Was überwiegt bei Ihnen aktuell, wenn es um die Lage der Weltwirtschaft und den Ausblick geht – der Pessimismus oder der Optimismus?Ich bin für das wirtschaftliche Wachstum weltweit sehr optimistisch, und das vor allem aus zwei Gründen: Was derzeit bei den Impfstoffen passiert, die Art und Weise sowie das Tempo, wie da Fortschritte erzielt werden, das ist unglaublich. Aus wissenschaftlicher Perspektive scheint mir das eine fast so große Revolution zu sein wie das, was in der Krise in der Fiskalpolitik und in der Geldpolitik geschehen ist. Ich bin natürlich kein Wissenschaftler, aber trotzdem scheint mir das sehr erfolgversprechend zu sein, um das Virus unter Kontrolle zu bekommen. Und der zweite Grund?Der zweite Grund ist, dass wir es nicht mit einer normalen Rezession zu tun haben, sondern mit einem bewussten Stoppen der wirtschaftlichen Aktivität, um die Ausbreitung des Virus zu beenden. In dem Moment, in dem die Wirtschaft wieder hochgefahren wird, ist eine sehr rasche Erholung zu erwarten – solange die fiskal- und geldpolitischen Maßnahmen den Unternehmen bis dahin eine Brücke bauen. Das scheint insbesondere auch in Europa sehr gut zu funktionieren. Wir haben im dritten Quartal gesehen, welche enorme wirtschaftliche Dynamik sich entwickeln kann, wenn die Beschränkungen aufgehoben werden. Das heißt konkret: Wann geht es wieder aufwärts?Ich erwarte, dass im zweiten Quartal 2021, spätestens aber Mitte nächsten Jahres eine recht dynamische wirtschaftliche Erholung einsetzen wird, die rascher und stärker ausfallen wird, als viele derzeit erwarten. Eine Lehre vergangener großer Krisen wie der Spanischen Grippe oder nach dem Zweiten Weltkrieg ist auch – und das ist eigentlich noch ein dritter Grund für Optimismus -, dass es viel aufgestaute wirtschaftliche Nachfrage gibt. Hinzu kommt die enorme Liquidität im System. Die Voraussetzungen für eine starke Erholung sind gegeben. Deswegen sage ich im Übrigen auch: Die Inflationsgefahren werden derzeit absolut unterschätzt. Lassen Sie uns noch kurz beim Wirtschaftsausblick bleiben: Sehen Sie denn aktuell weiteren Handlungsbedarf seitens der Fiskal- oder Geldpolitik oder wäre das angesichts Ihrer positiven Einschätzung für 2021 überzogen?Je nachdem, wie sich die zweite oder dritte Welle jetzt ausbreitet, kann in einzelnen Ländern sicher noch fiskalischer Handlungsbedarf bestehen. Dann geht es aber um sehr gezielte Hilfen für einzelne Sektoren oder Regionen. Was die Geldpolitik angeht: 90 % aller Bonds weltweit weisen einen Zins von weniger als 1 % und 35 % aller Bonds einen negativen Zins auf. Das zeigt, die Zentralbanken können mit weiteren geldpolitischen Lockerungen nicht mehr allzu viel bewirken. Also halten Sie die weiteren geldpolitischen Lockerungen nicht für sinnvoll oder angebracht?Extrem wichtig für das Szenario des Wiederaufschwungs ist, dass es bis jetzt gelungen ist, eine Bankenkrise zu verhindern. Es wäre fatal, wenn es zusätzlich zur Gesundheits- und der kurzfristigen Wirtschaftskrise noch eine Bankenkrise geben würde. Die aktuellen Maßnahmen sollten das sicherstellen. Womöglich kann man die eine oder andere Maßnahme auf der Zeitachse noch ausweiten oder punktuell nachbessern. Aber die Geldpolitik stößt an Grenzen. Befürchten Sie keine Zweitrundeffekte, wenn es wie befürchtet im Frühjahr eine Insolvenzwelle gibt, die dann die Banken belastet?Natürlich wird es Insolvenzen geben. Aber ich erwarte nicht, dass es eine massive Pleitewelle geben wird. Dank der ganzen Überbrückungshilfen wird es hoffentlich gelingen, dieses Tal der Tränen zu durchschreiten, ohne dass reihenweise Unternehmen insolvent werden. Wir haben diese Brücke nicht ins Nichts gebaut. Somit sollte es auch nicht zu einer Finanzkrise kommen. Auf Bankenseite zahlt sich jetzt aus, dass die Banken dank der regulatorischen Reformen nach der Weltfinanzkrise mit sehr viel mehr Liquidität und Eigenkapital in diese Krise hineingegangen sind. Sie sagen, dass sich der fiskalische Handlungsbedarf von Region zu Region unterscheiden kann. In den USA wird seit Wochen, ja Monaten um ein neues Konjunkturpaket gerungen. Wie wichtig ist es, dass das kommt?Es braucht auf jeden Fall eine weitere fiskalische Unterstützung für die US-Wirtschaft – und die wird auch kommen. Die große Frage ist, wie groß das neue Paket ausfallen wird. Da werden wir bis zur Stichwahl in Georgia am 5. Januar warten müssen. Aber man muss in jedem Fall den Vergleich zur Weltfinanzkrise sehen: Damals gab es ein Paket von 800 Mrd. Dollar. Da liegen wir schon drüber – ohne neues Paket. Und wenn es kein Konjunkturpaket gibt, muss die Fed wieder in die Bresche springen? Nicht wenige sagen auch, die EZB solle sich ein Beispiel an der Fed nehmen und sehr viel aggressiver agieren.Die USA sind sehr stolz auf ihren starken Kapitalmarkt. Auch mittlere und kleine Unternehmen finanzieren sich sehr viel stärker über den Kapitalmarkt als in Europa, wo der Bankkredit dominiert. In dieser Krise war es dadurch aber schwieriger, Überbrückungskredite an die Unternehmen zu bringen. Die Fed musste deshalb sehr viel aggressiver an den Finanzmärkten intervenieren. In Europa ging das sehr viel leichter über das Bankensystem. Das kann man nicht miteinander vergleichen. Was aber noch das weitere Konjunkturpaket angeht: Entscheidend wird es sein, dass das Geld nicht nur genutzt wird, um kurzfristig den Coronaschock zu absorbieren, sondern auch für die langfristige Transformation der Wirtschaft – Stichworte: Infrastruktur und Klimawandel. In Europa haben die Staaten jetzt endlich das Gezerre um den Corona-Wiederaufbaufonds beendet. Wird jetzt alles gut?Was in diesem Sommer in Europa beschlossen worden ist, auch vor allem dank Bundeskanzlerin Angela Merkel, ist ein unglaublicher und extrem wichtiger Schritt, den man kaum überbewerten kann. Das gilt kurzfristig für die finanziellen Hilfen, die vor allem die südlichen Krisenländer dringend brauchen, aber auch langfristig. Das war ein historischer Moment für die Umgestaltung der Europäischen Union. Es wäre folglich eine Katastrophe gewesen, wenn der Fonds jetzt doch nicht gekommen wäre. Die Einigung jetzt ist eine hervorragende Nachricht für Europa. Ein anderes schwieriges Thema für die Europäer ist der Brexit. Am 31. Dezember droht letztlich doch ein harter Brexit. Was erwarten und befürchten Sie da?Ich bin weiter überzeugt, dass es eine Einigung geben wird, wenngleich vermutlich erst auf den letzten Metern der “Extra Mile”, die die Verhandlungspartner zu gehen vereinbart haben. Klar ist, die Briten sind jetzt am Zug, um einen Deal zu ermöglichen, nicht die Europäer. Grundsätzlich ist der Brexit ein großes Abenteuer, das für Großbritannien am Ende sehr schmerzhaft sein wird. Aus europäischer Sicht mache ich mir nicht allzu große Sorgen. Natürlich ist es ein Rückschlag für die europäische Idee. Aber zugleich hat Europa klargemacht, dass es an seinen Werten festhält. Sie haben anfänglich von einer Revolution auch der Fiskalpolitik in der Krise gesprochen. Tatsächlich haben alle Staaten zu beispiellosen Hilfspaketen gegriffen und die Schulden sind enorm angestiegen. Wie nachhaltig ist das?Es ist schon paradox: Die Schulden sind so hoch wie nie und zugleich kostet es die Staaten – mit Ausnahme Japans – so wenig wie nie, diese Schulden zu finanzieren. Das hat auch dazu geführt, dass sich der Zeitgeist komplett gedreht hat. So gut wie niemand spricht mehr von Konsolidierung, aber alle davon, fiskalisch immer weiter Gas zu geben. Die Schuldenstände werden also tendenziell weiter steigen. Aber ich mahne da zur Vorsicht. Die Schulden dürfen nicht ins Uferlose steigen. Ich befürchte, dass die Inflationsrisiken und das Risiko steigender Zinsen unterschätzt werden. Das heißt konkret?Ich denke, dass die Inflation in ein paar Jahren steigen wird. Das wird keine galoppierende Inflation sein. Aber ich bin überzeugt, dass wir in Richtung eines neuen Inflationsregimes gehen, mit Inflationsraten deutlich oberhalb von 2 %. Dann wird es in einer ersten Phase sehr viel Druck auf die Notenbanken geben, trotzdem die Zinsen niedrig zu halten, damit die Schulden nicht zum Problem werden. Darauf setzt auch der Zeitgeist. Irgendwann wird sich aber die Frage stellen, ob die Zentralbanken wieder in die Unabhängigkeit entlassen werden oder wir in eine Situation kommen, in der die Notenbank komplett politisiert wird. Das hätte langfristig sehr negative Folgen. Was halten Sie für das plausiblere Szenario: eine engere Kooperation oder Koordination von Fiskal- und Geldpolitik oder eine Rückkehr zur Trennung und zur Unabhängigkeit der Notenbanken?Kurzfristig sehe ich nicht, dass sich diese Verwässerung der Grenzen zwischen Fiskal- und Währungspolitik ändert. Mittelfristig hoffe ich schon, dass man die Weisheit hat, im richtigen Moment dem Ganzen Grenzen zu setzen und die Notenbanken wieder zu ermächtigen, langfristig die Preisstabilität zu gewähren. In Europa bin ich da zuversichtlich. Und für die USA nicht?Die Tatsache, dass Ex-Notenbankchefin Janet Yellen Finanzministerin wird, gibt mir ein gewisses Vertrauen, dass man auch in den USA versteht, dass das aktuelle Regime mit enger Verzahnung von Fiskal- und Geldpolitik im Moment notwendig ist, aber dass man andererseits die langfristig verankerten Erwartungen von Preisstabilität nicht opfern darf. Der Preis, dann wieder Stabilität hinzubekommen, wäre sehr hoch. Was sind die Treiber des von Ihnen erwarteten Inflationsschubs?Ich sehe vier Faktoren. Erstens eine Art Re-Globalisierung, also der Versuch, die globalen Lieferketten resilienter zu gestalten. In gewisser Weise können wir das mit dem Aufbau der Kapitalpuffer nach der Finanzkrise vergleichen. Wir brauchen in den globalen Lieferketten zusätzliche Puffer. Diese werden aber zwangsläufig zu höheren Produktionskosten führen. Zweitens die strategische Neuausrichtung der globalen Wirtschaft in Richtung Nachhaltigkeit. Die ist selbstverständlich notwendig und wünschenswert, wird aber auch in der Tendenz zu höheren Produktionskosten fühlen, weil sie wie eine Art Steuer wirkt. Beides sind Angebotsschocks. Der dritte Faktor ist die neue “Nachholstrategie” der Notenbanken, die nach Jahren unterhalb des Ziels bewusst auf Inflationsraten zielt, die deutlich über dem traditionellen Inflationsziel liegen. Das verändert die Erwartungen an den Finanzmärkten fundamental. Und die höhere Nachfrage?Das ist der konjunkturelle Aspekt. Wir wissen aus der Vergangenheit und wir sehen es an den Sparquoten: Das Potenzial der aufgestauten Nachfrage ist sehr groß. Wenn man das alles zusammennimmt, kommt man unweigerlich zum Schluss, dass die eingepreisten Inflationsraten wahrscheinlich zu niedrig sind. Sie haben von Inflationsraten von deutlich über 2 % gesprochen. Was heißt das konkret – 3, 4, 5 %?Sicher wird das alles nicht sofort geschehen, auch weil vorerst die disinflationäre Wirkung der Krise überwiegt. Aber auf Sicht von drei Jahren werden wir wohl Inflationsraten von rund 3 % sehen. Das wirkt erst einmal harmlos.Historisch betrachtet ist das aber eine neue Ära. Wenn Sie die 1960er Jahre anschauen: Damals wie heute hat niemand damit gerechnet, dass es zu Inflation kommen könnte, das war quasi ein Ding der Unmöglichkeit. Und dann kam ein großer Angebotsschock: die Ölkrise. Der Schwenk zu Nachhaltigkeit plus Neuorientierung der globalen Wertschöpfungsketten ist eine Art monetäres Pendant zu damals. Dazu kommen die veränderten Erwartungen wegen des neuen geldpolitischen Regimes. Das scheint mir eine Konstellation zu sein, in der die Inflationsrisiken stark unterschätzt werden. Gilt das auch für die Zentralbanken selbst?Ich glaube schon, dass sie sich darüber Gedanken machen. Im Moment haben wir natürlich mit Covid-19 eine andere Herausforderung. Ich war aber schon ein bisschen beunruhigt, dass dem neuen geldpolitischen Regime der Fed im Prinzip jegliche Präzisierung fehlt. Wo stehen die Leitplanken für das Überschießen des Inflationsziels? Es wurde auch nicht avisiert, wie viel Inflation die Fed aus der Vergangenheit aufholen will. Diese Präzisierung und auch eine klare langfristige Verpflichtung zur Preisstabilität habe ich vermisst. Was folgt daraus für die EZB?Ich denke und hoffe, dass es bei der EZB etwas konservativer sein wird und dass man da schon das Mandat, das sehr stark verankert ist im EU-Vertrag, wiederfinden wird – also den Fokus auf die Preisstabilität. Neben dem Inflationsziel geht es bei der EZB-Strategieüberprüfung auch um Aspekte wie den Klimawandel, was Präsidentin Christine Lagarde sehr wichtig ist. Wie schätzen Sie die Diskussion ein? Welchen Beitrag kann die Geldpolitik zum Kampf gegen den Klimawandel leisten?Grundsätzlich haben die Notenbanken keine andere Wahl, als sich intensiv mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Das hat Christine Lagarde absolut richtig erkannt. Und was bedeutet das konkret? Ist eine Bevorzugung grüner Titel bei Anleihekäufen gerechtfertigt?Bei den Käufen kann es einen stärkeren Fokus auf grüne Anleihen geben. Natürlich muss der Klimawandel aus rein geldpolitischer Perspektive ein sekundäres Ziel sein. Den Klimawandel bei den Anleihekäufen aber überhaupt nicht in Betracht zu ziehen, ist keine Option. Zudem werden sich Notenbanken mit hohen Währungsreserven damit auseinandersetzen müssen, was der Richtungswechsel zur Nachhaltigkeit für ihren Spielraum bei den Währungsreserven bedeutet. Auch dem kann sich heute keine Notenbank entziehen. Ich habe keine Zweifel, dass gerade die Leitfunktion von Christine Lagarde und der EZB Auswirkungen auf den Rest der Notenbanken haben wird. Wo würden Sie eine rote Linie ziehen bei “grüner” Geldpolitik?Die rote Linie ist im Prinzip da, wo dies das geldpolitische Ziel und das gesetzliche Mandat unterminieren würde. Aber davon sind wir meilenweit weg. Das ist aus meiner Sicht eine sehr theoretische Diskussion. Ebenfalls überwiegend theoretisch, aber zusehends praxisrelevant ist die Diskussion über digitales Zentralbankgeld. Brauchen wir digitales Zentralbankgeld?Ich bin überzeugt, dass digitales Zentralbankgeld langfristig kommt. Grundsätzlich bietet diese Innovation gewisse Vorteile – gerade wenn die Bargeldnutzung zurückgeht. Entscheidend wird sein, dass das Geld auch im digitalen Zeitalter von den Notenbanken kontrolliert und reguliert bleibt. Die Staaten sollten nicht den Fehler machen, sich zurückziehen und das Geld zu privatisieren. Bei allem Respekt, Herr Hildebrand, ist das nicht eine typische Notenbanker-Abwehrhaltung? Die Entwicklung geht doch in eine andere Richtung: Diem, vormals Libra, und Bitcoin schaffen Fakten durch Zusammenarbeit mit großen Playern im Bereich der Finanzdienstleistungen.Das ist kein Gegensatz zu dem, was ich sage. Es gibt da sicher Innovation bei Zahlungssystemen, und das ist auch gut so. Aber was ich nicht sehe, ist, dass die Notenbanken oder die Staaten die Kontrolle über das Geld abgeben. Das wäre nicht im Interesse der Bürger. Privates Geld bietet nicht die Sicherheit und die Stabilität, an die wir uns gewöhnt haben. Noch ein anderes Thema: Europas Banken. Sie sagen, dass Sie nicht von einer Bankenkrise ausgehen. Gleichwohl haben wir im europäischen Bankensystem nach wie vor das Problem der geringen Profitabilität. Kann die Coronakrise Katalysator sein für eine stärkere Konsolidierung? Und wie beurteilen Sie die Debatte über die Notwendigkeit, die Banken zu rekapitalisieren, oder über eine europäische Bad Bank für faule Kredite?Es gibt drei Probleme in der europäischen Bankenlandschaft, die alle miteinander verbunden sind. Das erste ist die Bewertung an den Aktienmärkten. Die meisten Banken haben abschreckende Price-to-Book-Ratios. Das zweite Problem ist, dass das Geschäftsmodell europäischer Banken weiter große Fragen aufwirft. In Deutschland hat das auch damit zu tun, dass die Sparkassen stark subventioniert werden. Das ist eine Barriere für die Anpassung der Geschäftsmodelle. Und das dritte Problem?Das ist das Thema Konsolidierungen. Der europäische Markt ist immer noch overbankt, es gibt immer noch zu viele Banken. Das reflektiert wiederum, dass die Bankenunion noch nicht vollständig existiert. Es ist sehr schwer, heute einem CEO oder Verwaltungsratspräsidenten den Vorwurf zu machen, dass er zu wenig über die Grenzen hinaus nach Möglichkeiten Ausschau hält, zu wenig konsolidiert, wenn gleichzeitig Hindernisse fortbestehen im grenzüberschreitenden Bereich. Ich bin aber überzeugt: In 20 Jahren werden wir in Europa weniger Banken haben, wir werden andere Geschäftsmodelle haben, und wir werden grenzüberschreitende Banken haben. Und Corona beschleunigt das?Ob Corona ein Beschleuniger sein wird, sei dahingestellt. Es ist in jedem Fall nicht konsistent, dass man einerseits mit dem Wiederaufbaufonds diese riesige politische Hürde genommen hat und andererseits doch nicht ganz richtig den Weg gehen will, was einen integrierten europäischen Bankenmarkt angeht. Es muss Europas Interesse sein, dass wir große europäische Banken haben und nicht abhängig sind von Morgan Stanley oder J.P. Morgan. Das wiederum kann nur gelingen, wenn man es den Banken ermöglicht, skalierbar auf europäischer Ebene zu operieren. Die US-Banken profitieren auch davon, dass sie Milliarden in die Digitalisierung investiert haben.Das wird auch für die europäischen Banken enorme Summen von Investitionen notwendig machen. Anders geht es nicht. Um das überhaupt finanziell möglich zu machen, muss das zukünftige europäische Geschäftsmodell aber skalierbar sein, und das funktioniert nur auf europäischer Ebene. Es ist das bekannte Henne-Ei-Problem: Alles hängt miteinander zusammen. Wird in 20 Jahren auch der Staaten-Banken-Nexus, der nicht zuletzt die EZB besorgt, überwunden sein? Oder hat das Euro-Notenbankensystem bis dahin ohnehin alle Euro-Staatsanleihen auf seine Bilanz genommen?Es wird immer diesen Link geben, aber dann auf europäischer und nicht mehr auf nationaler Ebene, was die Problematik massiv reduzieren wird. Von daher ist es nicht nur aus kommerzieller oder geopolitischer Hinsicht logisch, sondern auch eine Diversifikation des Risikos, wenn wir das auf europäischer Ebene ansetzen können. Das heißt, wir hätten dann einen liquideren Bankenmarkt. Der Wiederaufbaufonds geht deutlich in diese Richtung, nun muss der Bankenmarkt nachziehen. Ein letzter Punkt: Wenn man die gesamthaft emittierten Anleihen auf europäischer Ebene – Recovery Fund, EIB, EU-Kommission, ESM – zusammennimmt, dann ist dieser Pool von Assets und Sicherheiten liquider als der gesamte deutsche Bondmarkt. Das ist ein Zeichen, wie historisch dieser Schritt war im Sommer. Deswegen ist es inkonsequent und inkohärent, wenn man gleichzeitig immer noch zögert, die Bankenunion zu vollenden. Das Interview führten Mark Schrörs und Stefan Reccius.