Die schwarze Null - vernünftiges Konzept oder Fetisch?

Deutschland im Dilemma zwischen nachhaltiger Finanzpolitik und globalem Herdenverhalten - Die Macht des fiskalisch Faktischen in der Weltwirtschaft

Die schwarze Null - vernünftiges Konzept oder Fetisch?

In Zeiten von Niedrig- und Negativzinsen sowie anderswo steigender Staatsverschuldung könnte es sich als höchst gefährlich erweisen, als einziges Land finanzpolitisch tugendhaft zu bleiben. Ein Denkanstoß.Von Stephan Lorz, FrankfurtDie schwarze Null – die einen feiern sie als Inbegriff haushaltspolitischer Logik, weil das Vertrauen in die Solidität von Staaten steigt und die Zinsen niedrig bleiben, was das Wachstum stimuliert und für finanzpolitischen Spielraum in schlechten Zeiten sorgt. Die anderen bekämpfen sie, weil sie aus ihrer Sicht einem veralteten ökonomischen Verständnis entspringt. Der finanzpolitischen Solidität werde alles untergeordnet, was die Prosperität der Wirtschaft bremse, ganze Gesellschaftsschichten verarmen und die Infrastruktur verkommen lasse, heißt es.Deutschland taugt nach Meinung dieser Gruppe auch deshalb nicht zum Vorbild, weil es seine gute fiskalische Lage zudem nur dem Umstand verdanke, dass es auf Kosten der Nachbarstaaten lebt. Im Schutze der Gemeinschaftswährung werde die Exportorientierung auf die Spitze getrieben, was anderen Ländern die Möglichkeit nehme, mit eigenen Exporten ihr Wachstum zu stärken.Nun steht es jenen Ländern natürlich frei, selber ebenfalls auf den Export zu setzen, der Bevölkerung ein sparsameres Verhalten abzufordern und die öffentlichen Ausgaben zu drücken, um – wie Deutschland – in eine bessere Wettbewerbsposition zu kommen. Zu Recht verweisen die Verteidiger der Konsolidierungspolitik ferner darauf, dass es doch eher weltfremd wäre, die eigene Wettbewerbskraft zu beschneiden, nur um andere Konkurrenten näher an sich herankommen zu lassen, wie das bisweilen auch von Organisationen wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF) mit Verweis auf die angeblich zu moderate Lohnentwicklung hierzulande gefordert wird. Klage über InvestitionslückenAllerdings zeigt die Debatte über hierzulande allerorten aufklaffende Investitionslücken und über eine Auszehrung des volkswirtschaftlichen Kapitalstocks auch, dass die Konsolidierungsstrategie der Bundesregierung durchaus heftige Nebenwirkungen hat. Die Zugeständnisse von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble, künftig wieder etwas mehr auszugeben für die Infrastruktur und die Bildung sowie den Steuerzahlern mit einer Steuersenkung entgegenzukommen, sind bereits eine Reaktion auf die Kritik.Aus strategischen Gründen und aus spieltheoretischen Überlegungen heraus ist es ohnehin ratsam, die Politik der schwarzen Null einmal zu hinterfragen. Denn bisher sieht es nicht danach aus, dass die finanzpolitische Nachhaltigkeit Berlins irgendwo Nachahmer findet. Die Verschuldung der meisten Länder um uns herum steigt weiter. Die Fiskalregeln werden reihenweise gebrochen. Und bleibt das Wirtschaftswachstum weiter schwach, steigt auch der Druck der Bevölkerungsbasis auf die Politik rapide, mit höheren Staatsausgaben gegenzusteuern und soziale Härten abzufedern. Das Festhalten an einem Konsolidierungskurs wäre unter diesen Bedingungen politischer Selbstmord.Selbst Großbritannien, dem man einst zugetraut hatte, auf den Konsolidierungspfad zurückzukehren, wird sich wegen des Brexit mehr verschulden. Finanzminister Philip Hammond hat bereits einen Kurswechsel eingeräumt. Und in den USA ist die sich jetzt abzeichnende Politik des neuen US-Präsidenten Donald Trump auch nicht dazu angetan, das Defizit – geschweige denn die Verschuldung – zurückzuführen. Von der Lage in Japan ganz zu schweigen. Kurz: Nicht nur in Europa, sondern weltweit ist ein Abbau der Staatsverschuldung in weite Ferne gerückt.Ein Politikwechsel hin zur Konsolidierung ist auch deshalb unwahrscheinlich, weil der Mainstream zumeist angelsächsischer neokeynesianischer Ökonomen empfiehlt, das Wachstum nicht durch eine solide Finanzpolitik, sondern gerade durch mehr Verschuldung anzukurbeln. Warnungen vor Nebenwirkungen und negativen Folgen einer solchen Politik werden als unmodern, bestenfalls exotisch, abgetan. Eher wird darüber nachgedacht, wie man durch ein Bargeldverbot die Wirksamkeit der Geldpolitik verstärken kann, weil man sie gern als Instrument für die Staatsfinanzierung einsetzen möchte. Neue Rolle der NotenbankenVor diesem Hintergrund dürfte Deutschland unter den großen Volkswirtschaften ein fiskalpolitischer Solitär bleiben. Zumal die meisten Regierungen höhere Defizite angesichts der niedrigen oder gar negativen Zinsen sogar für eine überaus intelligente haushaltspolitische Strategie halten. Die Notenbanken bestärken sie in ihrem Verhalten noch, indem sie ihnen über QE-Programme (Quantitative Easing) die emittierten Schuldenpapiere aus den Händen reißen. Zum Jahresende bekommt der Fiskus die darauf gezahlten Zinsen über den Notenbankgewinn wieder zurückgezahlt. Kann ein Geschäft verführerischer sein?Wohin das führt, zeigt der Blick nach Japan: 2018 dürfte die Bank of Japan (BoJ) etwa die Hälfte der gesamten Staatsschuld des Landes auf ihre Bilanz genommen haben. Bislang ist kein Aufschrei zu hören angesichts der offenkundigen Tatsache, dass hier direkte Staatsfinanzierung betrieben wird. Warum sollten sich die anderen Finanzminister also zurückhalten? Allein, weil es tugendhafter ist, traditionellen ökonomischen Gesetzmäßigkeiten zu folgen, statt sich auf ein Experiment einzulassen? In einer Zeit, in der “Disruption” zum Wert an sich erklärt wird und die Netzökonomie die wirtschaftlichen Zusammenhänge ohnehin auf den Kopf stellt, ist mit althergebrachten Argumenten offenbar wenig Staat zu machen. Selbst die Geldpolitik befindet sich mit Negativzinsen und Ankäufen von Wertpapieren ja auf Neuland. Warum nicht auch die Staaten?Dass ein solches fiskalisches Geschäftsmodell fundamental gesehen nicht nachhaltig sein kann, drängt sich einem förmlich auf: Gelangt zu viel Geld in den Wirtschaftskreislauf, wird die Währung über kurz oder lang entwertet; zudem werden die Marktsignale zunehmend selbstreferenziell. Und schließlich geht das Vertrauen in die Währung insgesamt verloren, Alternativwährungen kommen auf. Und da allein der Schuldenstand irgendwann Dimensionen erreicht, dass er kaum mehr als “tragbar” und “abbaubar” angesehen werden kann, ist ein Schuldenschnitt der einzige Ausweg – so die konventionelle Lehrbuchweisheit. Bleibt die Panik aus?Aber stimmt die Prämisse überhaupt, dass Verschuldungskurs und Staatsfinanzierung das Vertrauen in die Währung erschüttert und sich die Welt dann von Panik getrieben in Gold, Diamanten oder digitalen Währungen stürzt? Japan scheint auf einen Schuldenschnitt hinzusteuern, ohne dass bislang Panik auftritt. Ratingagenturen bewerten die Bonität nach wie vor mit A+ (S & P) oder A 1 (Moody’s). Dabei gibt es in Tokio inzwischen Überlegungen, die von der Notenbank erworbenen Staatspapiere einfach stillzulegen, die Laufzeit auf den St.-Nimmerleins-Tag fortzuschreiben und tief in der Bilanz zu vergraben. Das mag einige (traditionelle) Ökonomen aufregen. Aber hatte man nicht auch vor vielen Monaten schlimmste Befürchtungen gehegt, als die Notenbanken angefangen hatten, die Zinsen in den negativen Bereich zu treiben und Anleihen – in einigen Ländern sogar Aktien – aufzukaufen?Längst scheinen sich die meisten Zeitgenossen an solcherart “unkonventionelle Geldpolitik” gewöhnt zu haben, so dass eine derartige Bilanzaktion gar nicht mehr so groß ins Gewicht fallen würde. Zumal sie technisch verklausuliert und rhetorisch camoufliert daherkäme. Da werden natürlich Fazilitäten eingestellt – keine Schulden. Und wer von jenen, die das Vorhaben durchschauen, hätte ein Interesse, eine globale Krise auszurufen? Schon als die irische Regierung die EZB an der Nase herumgeführt und der nationalen Notenbank im Rahmen der Bankenrettung Staatsschulden in die Bilanz gedrückt und einen Zahlungsaufschub für 25 Jahre abgetrotzt hatte, empörte das nur die Fachkreise. Inzwischen wird Irland sogar dafür gelobt, die Defizite so schnell zurückgeführt zu haben. Die Sünden davor? Vergeben und vergessen.Spätestens nach der “Stilllegung” der Schulden werden die Regierungen allerdings wieder auf den Pfad der Tugend zurückkehren müssen, um etwaige Irritationen zu dämpfen und Kritiker zu besänftigen. Geht das Kalkül dann auf, stehen die geläuterten Länder aber womöglich viel besser da als alle anderen Staaten, die sich fiskalisch diszipliniert und kasteit hatten: Mit Schulden und billigem Geld konnte die Infrastruktur modernisiert, die Produktionsbasis erneuert, die Standortattraktivität erhöht und die Wettbewerbsfähigkeit dramatisch verbessert werden.Und Deutschland? Die Bundesrepublik hätte in einem solchen Szenario praktisch nichts gewonnen – obwohl sie sich tugendhaft verhalten hat. Nicht immer, das könnte die Lehre sein, macht sich die Tugendhaftigkeit womöglich bezahlt. Die Situation lässt sich gut mit dem Kinobeispiel illustrieren: Stehen immer mehr auf, sehen jene, die sitzenbleiben – was für alle zweifellos besser wäre – gar nichts mehr. Sie verpassen die spannendsten Szenen. Wenn es dann auf das Ende zugeht, setzen sich auch alle anderen wieder hin – aber Deutschland hat die Handlung nicht verstanden, bekommt allenfalls das Happy End noch mit. Ein Gambler zur rechten ZeitVielleicht sollte sich die Bundesregierung insofern nicht nur die “schwäbische Hausfrau” als Handlungsmaxime vornehmen, sondern die globale finanzpolitische Konkurrenzlage eher spieltheoretisch angehen. Den Gambler zu geben zur rechten Zeit, könnte sich langfristig gesehen dann womöglich als die wirtschaftlich klügere Wachstumsstrategie erweisen.Andererseits: In der Vergangenheit hatte sich die Schuldenstrategie für die betreffenden Staaten kaum ausgezahlt. Wenn jene Länder das Geld tatsächlich effizient und produktiv verwendet hätten, argumentiert etwa S & P-Chefanalyst Moritz Kraemer, wären jene Staaten mit den höchsten Staatsausgaben über die Jahre wohl auch am schnellsten gewachsen. Das aber sei, wenn man etwa auf Italien, Griechenland und Japan schaut, gerade nicht der Fall gewesen. Japan habe in den 90er Jahren sogar Investitionen gestemmt über jährlich etwa 8 % der Wertschöpfung. Auch das habe nicht geholfen. Zahl sich Solidität also auf jeden Fall aus?Das Kalkül der Schuldenländer kann auch schiefgehen und die Weltwirtschaft in eine tiefe Wirtschaftskrise stürzen, weil der Glaube an die Stabilität der Staatsfinanzen schlagartig verloren geht. Denn soziale Umbrüche vollziehen sich nie linear – und kündigen sich damit an – sondern disruptiv, schockartig, womöglich auf ein nebensächliches Ereignis bezogen. Aber auch dann würde Deutschland nicht von seiner Tugendhaftigkeit profitieren. Denn die in Zeiten hoher Exporterträge erwirtschafteten Überschüsse sind meist im Ausland investiert, wo sie ebenfalls an Wert verlieren. Mitten im KrisenstrudelUnd mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit würde die Eurozone eine neue tiefe Krise nicht überstehen. Eine dann daraus hervorgehende nationale deutsche Währung wäre unter diesen Umständen wohl härter als jemals die D-Mark – mit allen Folgen gerade für das Exportland Deutschland. Zudem fehlten der heimischen Ausfuhr in einer Weltkrise ja die Abnehmer. Deutschland würde in den Sog des Niedergangs hineingezogen. Es wäre dann kein Geld mehr da etwa zur Verbesserung der Standortqualität oder zur Steigerung des Konsums. Auch in diesem Fall wäre also nichts gewonnen, aber alles zerronnen – auch die Tugendhaftigkeit.