Die US-Wirtschaft steht am Scheideweg

Steigende Erkrankungen und striktere Kontaktbeschränkungen dämpfen Hoffnungen auf ein rasches Ende der Wirtschaftskrise

Die US-Wirtschaft steht am Scheideweg

Die US-Wirtschaft hat gerade begonnen, sich von den Folgen der Coronakrise zu erholen. Nun aber zwingen deutlich steigende Infektionszahlen große Staaten wie Kalifornien und Texas zu neuen Gegenmaßnahmen. Das dämpft die Aussichten. Die ganze Welt blickt nun gebannt auf die wichtigste Volkswirtschaft.Von Peter De Thier, WashingtonVier Monate nach dem Ausbruch der Coronavirus-Pandemie steht die US-Wirtschaft an einem Scheideweg. Die rasche Lockerung von Ausgangssperren und Kontaktbeschränkungen hat bei Verbrauchern und Unternehmen für Optimismus gesorgt und wichtige konjunkturelle Eckdaten wieder in einem deutlich besseren Licht erscheinen lassen. Nun scheint sich aber das Blatt wieder zu wenden. In mehr als zwei Dritteln der 50 US-Staaten ziehen die Infektionen wieder an, teils in beängstigendem Tempo. Als Reaktion darauf haben Kalifornien und Texas, an der jeweiligen Wirtschaftsleistung gemessen die beiden größten Bundesstaaten, wieder teilweise Lockdowns angeordnet. Ökonomen sind sich weitgehend einig, dass die Strategie des Weißen Hauses, auf die Öffnung der Wirtschaft zu drängen und die Pandemie schönzureden, langfristig zum Scheitern verurteilt ist.Nach einer Wachstumsrate von 2,3 % im vergangenen Jahr hatte das annualisierte Bruttoinlandsprodukt (BIP) der USA im ersten Quartal 2020 um 5 % nachgegeben, und es dürfte von April bis Juni noch viel stärker eingebrochen sein. Bis vor wenigen Wochen hatte indes der Optimismus über die konjunkturelle Entwicklung im weiteren Jahresverlauf wieder zugenommen.Die Einzelhandelsumsätze hatten im Mai um mehr als 18 % zugelegt. Auch zog die Industrieproduktion nach einigen schwachen Monaten wieder an. Zudem legte das Verbrauchervertrauen wieder deutlich zu – allerdings von einem deutlich niedrigeren Niveau als dem Vorkrisenniveau ausgehend. Selbst der Häusermarkt präsentierte sich in relativ robuster Verfassung. Folglich sagte die unabhängige Haushaltsbehörde Congressional Budget Office (CBO) Anfang Juli in ihren aktualisierten Prognosen für das dritte Quartal eine aufs Jahr hochgerechnete Wachstumsrate von mehr als 12 % voraus und meinte, dass die weltgrößte Volkswirtschaft bis Mitte 2022 wieder auf Vorkrisenniveau produzieren würde. Mittelfristigen Optimismus strahlt auch der Internationale Währungsfonds (IWF) aus. Der Bericht zu dessen neuen Artikel-4-Konsultationen mit den USA geht für 2020 von einem Wachstumseinbruch um 6,6 % aus, erwartet aber kommendes Jahr dann eine solide Zunahme der Wirtschaftsleistung um 3,9 %. Staaten machen Kehrtwende Nun aber droht neuer Gegenwind durch Corona: Die Gouverneure großer Staaten, die von dem dramatischen Anstieg neuer Infektionen besonders hart betroffen sind, vollziehen eine Kehrtwende. Selbst der republikanische Regierungschef von Texas, Greg Abbott, in dessen Staat Krankenhäuser und Intensivstationen überlastet sind, ordnete eine Maskenpflicht an und drohte mit einem vollständigen Lockdown. In Kalifornien ließ der demokratische Gouverneur Gavin Newsom Kneipen und Restaurants wieder schließen. Sie dürfen nur noch mit Kontaktbeschränkungen im Freien servieren. Den Betrieb einstellen müssen in vielen Bezirken ferner Fitnessstudios, Shopping Malls, Friseure und andere “nichtessenzielle” Unternehmen. Allein das Beispiel Kalifornien zeigt, dass eine gesamtwirtschaftliche Wende zum Schlechteren unausweichlich erscheint. Schließlich wäre der Westküstenstaat gemessen an der Wirtschaftsleistung hinter Deutschland und vor Indien die weltweit fünftgrößte Volkswirtschaft. Müssen dort und womöglich in Texas Firmen aus dem Gastgewerbe, der Tourismusindustrie und anderen Branchen wieder zurückrudern, warnen Ökonomen vor einem Schneeballeffekt für die ganze US-Wirtschaft.Einig sind sich Experten, dass die von Trump forcierte Trennung der Pandemie von der Wirtschaft, für die er im Interesse der eigenen Wiederwahl vor allem am Arbeitsmarkt möglichst schnell wieder bessere Zahlen sehen will, die Krise nur verschärfen wird. Darauf wies zuletzt auch Robert Kaplan, Präsident der regionalen Fed Dallas, hin, der das Tragen von Schutzmasken als “kritisch für die Erholung” bezeichnete.Vor den Konjunkturrisiken warnt auch Notenbankchef Jerome Powell. Er erinnert daran, dass selbst während der einsetzenden Erholung “Produktion und Beschäftigung deutlich unter dem Vorkrisenniveau” lagen und sowohl Kontaktbeschränkungen als auch der erfolgreiche Einsatz eines Impfstoffs für einen Aufschwung unverzichtbar seien.Umso wichtiger wird nun die Verabschiedung eines neuen Konjunkturpakets auch deswegen sein, weil Ende Juli jene zusätzlichen 600 Dollar an wöchentlicher Arbeitslosenhilfe, die im März beschlossen wurden, auslaufen werden. Auf ein neues Paket könnten sich der Kongress und das Weiße Haus bereits in den kommenden Wochen verständigen.Die steigenden Staatsschulden, die bereits vor Ausbruch der Pandemie mehr als 107 % des BIP ausmachten, werden dabei vorläufig in den Hintergrund treten. Sowohl Powell als auch andere Experten sind sich zwar einerseits über die Notwendigkeit einig, die Staatsfinanzen unter Kontrolle zu bekommen. Sie sehen das andererseits aber angesichts der erheblichen Konjunkturrisiken als Projekt an, das erst nach Überwindung des Krise in Angriff genommen werden sollte.