IM INTERVIEW: MARCEL FRATZSCHER

"Die Zeichen der Zeit noch immer nicht erkannt"

Der Chef des Wirtschaftsforschungsinstituts DIW über den Aufschwung, die Risiken und die Fehler Berlins

"Die Zeichen der Zeit noch immer nicht erkannt"

– Herr Fratzscher, zuletzt gab es aus der deutschen Wirtschaft durchaus gemischte Signale: Würden Sie sagen, dass das Glas halb voll oder halb leer ist?Wir klagen auf hohem Niveau. Ja, natürlich hat sich das Wachstum in Deutschland deutlich abgeschwächt. Anfang des Jahres haben wir noch ein Wirtschaftswachstum von 2,5 % für 2018 prognostiziert. Mittlerweile erwarten wir nur noch ein Wachstum von 2,0 %. 2 % Wachstum sind für Deutschland aber noch immer hervorragend, zumal wenn man bedenkt, dass das Potenzialwachstum unserer Volkswirtschaft bei etwa 1,5 % liegt. Die Chancen stehen gut, dass Deutschland noch zwei oder drei wirtschaftlich goldene Jahre erleben wird. Der Arbeitsmarkt boomt und die Löhne steigen ordentlich, und damit bleibt die Konsumnachfrage die wichtigste Stütze der deutschen Wirtschaft. Die Exporte laufen hervorragend, und die neue Bundesregierung hat mit ihren Steuersenkungen und Ausgabenerhöhungen ein kleines Konjunkturprogramm geschaffen.- Ein großes Risiko für den “Exportweltmeister” Deutschland ist der sich zuspitzende Handelskonflikt weltweit: Wie schlimm kommt es da für die deutsche Wirtschaft?Auch wenn der wirtschaftliche Ausblick für Deutschland gut ist, so haben die Risiken stark zugenommen. Der drohende Handelskonflikt ist eines der wichtigsten Risiken, denn Deutschland hängt mit seinem Wirtschaftsmodell viel stärker als die meisten anderen Länder von offenen Grenzen und vom Welthandel ab. Ich hoffe sehr, dass mit dem Besuch von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bei US-Präsident Donald Trump der Handelskonflikt zwischen den USA und der EU beigelegt werden kann. Ein Freihandelsabkommen wäre in der Tat eine hervorragende Lösung, gerade für Deutschland. Und es wäre ein ganz wichtiges Zeichen dafür, dass die EU handlungsfähig ist und sich nicht von den USA auseinanderdividieren lässt.- Wo sehen Sie weitere Risiken für den deutschen Aufschwung – und wo Chancen? Wie groß schätzen Sie etwa die Gefahr eines Wiederaufflammens der Euro-Krise ein?Das größte Risiko für den deutschen Aufschwung kommt aus Europa. Es ist ein hausgemachtes Problem des zunehmenden Nationalismus und Populismus. Das spaltet Europa und lässt nationale Regierungen auf Konfrontationskurs gehen. Italien macht mir die größten Sorgen. Das Land befindet sich nach wie vor in einer tiefen Krise, und die neue Regierung könnte den großen Fehler begehen und den Euro zur Disposition stellen. Dies würde unweigerlich eine Panik an den Finanzmärkten auslösen und könnte ganz Europa schnell wieder in die Krise treiben. Erinnern wir uns an 2012, als die Finanzmärkte auf einen Austritt Spaniens und Italiens aus dem Euro spekulierten und nur ein mutiges Eingreifen der EZB diese Panik stoppen konnte. Ein politisches Hinterfragen des Euro würde der EZB jedoch die Hände binden, sie würde nicht eingreifen können. Die Fliehkräfte wären so enorm, dass nicht nur Italien, sondern auch Deutschland eine tiefe Rezession erleben würde, die jene nach der Lehman-Pleite 2008 übertreffen könnte.- Was könnte die Bundesregierung tun, um ein nachhaltiges Wachstum zu sichern?Deutschland erlebt wirtschaftlich hervorragende Jahre mit drei großen wirtschaftspolitischen Erfolgen – einem Arbeitsmarktboom, einer hohen Wettbewerbsfähigkeit mit steigenden Exporten sowie riesigen Überschüssen in den öffentlichen Kassen. Dies ist jedoch nur eine Momentaufnahme, und meine große Sorge ist, dass die Politik diese goldenen Jahre nicht nutzt. Deutschland hat ein riesiges privates und öffentliches Investitionsproblem. Die Infrastruktur verfällt, die digitalen Netze sind völlig unzureichend, es wird zu wenig für Innovation und für die digitale Transformation getan, und vor allem auch die Investitionsbedingungen für private Unternehmen sind nicht ausreichend. Deutsche Unternehmen investieren immer mehr im Ausland und immer weniger in Deutschland. Die Regulierung ist häufig eine große Hürde für Unternehmen, die Bürokratie ist überbordend, viele Unternehmen finden nicht die Fachkräfte, die sie benötigen, und steuerliche Anreize für Investitionen sind unzureichend. All diese Probleme kann die Politik adressieren. Meine Sorge ist aber, dass die Bundesregierung die Zeichen der Zeit noch immer nicht erkannt hat und zu wenig tut, um in die Zukunftsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts Deutschland zu investieren.- Wie schätzen Sie den Ausblick für die Wirtschaft im Euroraum ein?Ich bin ein Optimist, was die wirtschaftliche Zukunft der Eurozone angeht. Die US-Wirtschaft befindet sich im neunten Jahr ihres Aufschwungs, die Eurozone ist lediglich im fünften Jahr. Die Wirtschaft der Eurozone hat ein riesiges Potenzial zum Aufholen und Wachsen. Das wahrscheinlichste Szenario ist, dass die Eurozone in den kommenden vier bis fünf Jahren ein starkes Wachstum wird hinlegen können. Auch wenn wir in Deutschland gerne über die fehlenden Reformen unserer Nachbarn klagen, so ignorieren wir doch, dass viele Länder in Südeuropa Reformen gemacht haben, die viel härter und weitgehender sind als unsere eigenen Reformen der Agenda 2010 vor 15 Jahren. Ich sehe die Reform des Euro und der Währungsunion als die wichtigste Herausforderung in den kommenden Jahren. Die Risiken in den Bankensystemen müssen deutlich abgebaut, die Fragmentierung der Finanzmärkte behoben und eine Kapitalmarktunion geschaffen werden. Die Eurozone benötigt bessere fiskalische Regeln, mit weniger Risiken, aber auch einer besseren Risikoteilung. Die Eurozone braucht bessere und neue Institutionen, die Risiken frühzeitig erkennen und Krisen in der Zukunft besser verhindern.- Die EZB steuert auf ein Ende ihrer ultralockeren Geldpolitik zu – ist das zum jetzigen Zeitpunkt richtig?Es ist wünschenswert, dass die EZB ihre expansive Geldpolitik so schnell wie möglich beenden kann. Ich mache mir allerdings Sorgen um die nun wieder aufkommende Polemik gegen die EZB in Deutschland, so wie jetzt zu den Target-Salden. Der Versuch, Deutschland immer wieder als Opfer des Euro darzustellen und eine Drohkulisse aufzubauen, ist schädlich für den Euro und für Europa. Ich denke, wir sind uns alle einig, dass das, was die EZB macht, außergewöhnlich ist und Risiken enthält. Aber die EZB hat ein klares Mandat der Preisstabilität, und solange sie dies nicht erfüllt hat, bleibt ihr gar keine andere Wahl, als eine expansive Geldpolitik zu verfolgen, inklusive eines Anleihenkaufprogramms. Aber ich bin optimistisch, dass die Eurozone nun endlich aus der Krise kommt, die EZB ihrem Mandat wieder gerecht wird und damit auch ihre Geldpolitik zurückfahren kann. Je schneller dies gelingt, desto besser.—-Die Fragen stellte Mark Schrörs.