"Dies ist wirklich ganz und gar außergewöhnlich"
Der Frankfurter Europarechtler Christoph Schalast hatte eigentlich erwartet, dass das Bundverfassungsgericht das Urteil des Europäischen Gerichtshofs zu den EZB-Anleihekäufen mehr oder weniger übernimmt. Entsprechend überrascht war auch er gestern. Im Interview spricht er über das Urteil und die Folgen. Herr Schalast, das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zu den EZB-Anleihekäufen erstmals in seiner Geschichte eine Kompetenzüberschreitung europäischer Organe festgestellt und moniert. Wie schätzen Sie das Urteil ein?Das Urteil wird einmal als eine Wegscheide in der europäischen Rechtsentwicklung gesehen werden. Doch jetzt kommt es darauf an, wie die EU-Institutionen und auch die direkt angesprochenen deutschen Verfassungsorgane darauf reagieren. Denn damit ist eine Situation eingetreten, die sich keiner der Betroffenen wünschen konnte: Es liegen zwei sich widersprechende Urteile vor, und insbesondere die Bundesregierung sowie die Bundesbank werden klug abwägen müssen, falls sich der Konflikt zuspitzt, wessen Kompetenz für sie ausschlaggebend ist. Eines ist auf jeden Fall klar: Dieses Urteil wird der Ausgangspunkt für eine intensive politische und juristische Diskussion und viele weitere Gerichtsentscheidungen sein. Die Karlsruher Richter kritisieren insbesondere den Europäischen Gerichtshof (EuGH). Dessen Urteil vom Dezember 2018 zum Kaufprogramm der EZB sei willkürlich und damit nicht bindend. Teilen Sie diese Einschätzung?Dies ist wirklich ganz und gar außergewöhnlich: Ein nationales Verfassungsgericht bescheinigt dem höchsten Gericht der EU, dass seine Urteilsgründe schlichtweg nicht vertretbar sind. Im Ergebnis stellt damit nicht nur die aus Sicht des Verfassungsgerichts fehlende ausreichende Begründung für die Anleihekäufe der EZB, sondern auch dieses Urteil einen Verstoß gegen das Grundgesetz dar. Spannend wird dabei sein, wie Verfassungsgerichte in anderen EU-Staaten, insbesondere in Mittel- und Osteuropa, diese deutsche Anregung, etwa bei Rechtsstaatsthemen etc., aufnehmen werden. Eine “Büchse der Pandora” wurde geöffnet. Droht jetzt ein Dammbruch, was den Rechtsgehorsam gegenüber dem EuGH betrifft?Das zentrale Argument in dem Karlsruher Urteil ist, dass der EuGH die tatsächliche Wirkung des Anleihekaufprogramms nicht ausreichend im Rahmen einer wertenden Gesamtbetrachtung gewürdigt hat. Dabei ist die Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ein höchst fragwürdiges Instrument, was ja nicht zuletzt die aktuelle Rechtsprechung in Deutschland – auch des Bundesverfassungsgerichts – zu Corona-Maßnahmen zeigt, die alle – mit höchst unterschiedlichen Ergebnissen – an diesem Grundsatz gemessen werden. Aus meiner Sicht wird der EuGH das bei Gelegenheit klarstellen. Wie werden die Luxemburger Richter Ihrer Meinung nach konkret auf die Kampfansage aus Karlsruhe reagieren – und wie sollten Sie aus Ihrer Sicht reagieren?Zwischen dem EuGH und dem Bundesverfassungsgericht gab es in der Vergangenheit schon einmal eine ähnliche Situation in den 1970er und 1980er Jahren, die “Solange-Rechtsprechung”, mit der sich das Bundesverfassungsgericht eine eigene Grundrechtsprüfung auch hinsichtlich Handlungen europäischer Organe vorbehielt, ohne dies allerdings jemals derart praxisrelevant werden zu lassen. Damals haben die Luxemburger Richter vor allem mit Dialog und guter Zusammenarbeit reagiert, und ich gehe davon aus, dass dies auch heute nicht anders sein wird. Erkennbar ist aber viel Überzeugungsarbeit zu leisten. Eine andere Frage ist, ob nicht die EU-Kommission gegen dieses Urteil beziehungsweise gegen Handlungen von deutschen Staatsorganen auf Grundlage dieses Urteils gerichtlich vorgehen wird. Mit Blick auf die EZB-Politik sieht das Bundesverfassungsgericht keinen Verstoß gegen das Verbot monetärer Staatsfinanzierung, bemängelt aber, dass die EZB die Verhältnismäßigkeit ihrer Maßnahmen nicht ausreichend geprüft oder nachgewiesen habe. Sehen Sie das genauso?Genau dies zeigt die doch höchst unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten der Verhältnismäßigkeit von Staatsanleihekaufprogrammen im Rahmen einer Gesamtbewertung, wie jetzt von Karlsruhe verlangt. Daher kann ich insoweit die Begründung auch nicht nachvollziehen. Man mag der Auffassung sein, dass das EuGH-Urteil vom Dezember 2018 im Ergebnis “falsch” ist, jedenfalls ist es aber ordentlich begründet und insoweit nach der Logik der bisherigen “Gauweiler-Entscheidungen” von Bundesverfassungsgericht und EuGH meiner Ansicht nach nicht zu beanstanden. Was bedeutet das Urteil für die EZB – kurzfristig, aber auch mittel- und langfristig? Welche Auswirkungen wird das Urteil für das kürzlich beschlossene Pandemie-Notfallankaufprogramm PEPP haben, das jetzt nicht Gegenstand des Verfahrens war?Es ist davon auszugehen, dass die EZB in Zukunft die Begründungsanforderungen des Bundesverfassungsgerichts – auch wenn sie das Urteil weder anerkennt noch für richtig hält – beachten wird, allein um einen künftigen Konflikt hier so weit wie möglich zu begrenzen. Nichtsdestotrotz ist aber davon auszugehen, dass nach dieser Entscheidung auch in Zukunft laufend Verfassungsbeschwerden in Deutschland gegen Handlungen der EZB und in Zukunft wohl auch vermehrt gegen weitere EU-Organe eingereicht werden. Kann eine einheitliche Geldpolitik im Euroraum auf Dauer überhaupt funktionieren, wenn die Gerichte in den 19 Euro-Ländern in dieser Art und Weise Einfluss nehmen wollen?Dies ist vielleicht die problematischste Konsequenz des Urteils. Der vom Bundesverfassungsgericht herangezogene Ultra-vires-Grundsatz gilt so natürlich auch in allen anderen 26 EU-Staaten und insbesondere in den Euro-Ländern. Euro-Kritiker und Euro-Skeptiker werden dies als Aufforderung verstehen, mit weiteren Klagen Maßnahmen der EZB zu hinterfragen. Dies hat in der jetzigen Krise möglicherweise einen psychologischen Effekt, und insoweit wäre es hilfreich, wenn man möglichst schnell die Wirkung des Urteils für die angesprochenen nationalen Organe klarstellt. Falls Karlsruhe der Bundesbank tatsächlich die Teilnahme am APP-Programm untersagen sollte – muss die Bundesbank dann gehorchen und könnte das der Einstieg in den Ausstieg Deutschlands aus dem Euro sein?Falls es tatsächlich – nach Ablauf der Dreimonatsfrist – etwa im Rahmen eines Eilverfahrens zu einer entsprechenden Anordnung des Bundesverfassungsgerichts gegenüber der Bundesbank käme, müsste diese entscheiden, welches Gericht bei diesem Normenkonflikt das zuständige ist. Eine Zwickmühle, in die die Zentralbank hoffentlich nie kommen wird. Steht mit einer konstitutionellen Krise und dem Streit über die Geldpolitik das Euro-Projekt womöglich insgesamt vor dem Aus?Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Vergangenheit immer wieder seine Integrationsfreundlichkeit betont, die im Übrigen auch eines der Strukturprinzipien des Grundgesetzes ist. Insoweit geht es jetzt darum, die Auswirkungen des Urteils im Detail auszuloten und wenn möglich zu begrenzen. Nichtsdestotrotz ist dies ein Rückschlag für das Europa, das nach dem Willen seiner Gründerväter eine Rechtsgemeinschaft sein sollte. Diese hat jetzt einen kleinen Riss bekommen. Die Fragen stellte Mark Schrörs.