DIE CAUSA LAUTENSCHLÄGER -- IM INTERVIEW: JÜRGEN STARK

"Draghi hat den Bogen überspannt"

Der Ex-EZB-Chefvolkswirt über Lautenschlägers Abgang und die Lage der EZB

"Draghi hat den Bogen überspannt"

Herr Professor Stark, was haben Sie spontan gedacht, als Sie von dem vorzeitigen Abschied von Sabine Lautenschläger aus dem EZB-Direktorium gehört haben?Ich war natürlich wie die meisten Beobachter völlig überrascht – und doch auch wieder nicht überrascht. Deutsche Geldpolitiker hadern seit Jahren mit der EZB-Politik. Nehmen Sie meinen vorzeitigen Rücktritt aus dem Direktorium im Jahr 2011 oder den Rücktritt des damaligen Bundesbankpräsidenten Axel Weber, ebenfalls im Jahr 2011. Ich denke, dass auch bei Frau Lautenschläger die jüngsten Entscheidungen vom 12. September der entscheidende Auslöser für den Rücktritt waren – auch wenn es noch andere Faktoren gegeben haben mag wie die langen Jahre mit einer Doppelbelastung als EZB-Direktoriumsmitglied und EZB-Bankenaufseherin im SSM. Mitte September hat der EZB-Rat die ohnehin bereits sehr expansive Geldpolitik noch einmal deutlich gelockert, inklusive der Wiederaufnahme breiter Anleihekäufe. Die ultralockere Geldpolitik ist damit de facto für Jahre vorgezeichnet.Die EZB-Politik der vergangenen Jahre steht nicht mehr im Einklang mit den traditionellen Bundesbankvorstellungen von der Rolle einer Zentralbank und der Geldpolitik. Der Tabubruch waren die Staatsanleihekäufe im Jahr 2010. Ursprünglich war die EZB nach dem Modell der Bundesbank konzipiert. Inzwischen aber sind die traditionellen deutschen Vorstellungen eine absolute Minderheitenmeinung. Mit der Ausnahme, dass die EZB nach wie vor ihren Sitz in Frankfurt hat, ist an deutscher Prägung nichts mehr erkennbar. Es handelt sich also um ein grundsätzliches Problem unterschiedlicher geldpolitischer Philosophien?Im EZB-Rat gibt es eine nie dagewesene Auseinandersetzung über geldpolitische Vorstellungen, über die Unabhängigkeit der Zentralbank – generell über die Frage, was eine Zentralbank tun soll und was nicht. Das hängt aber schon auch mit den jeweils handelnden Personen zusammen. Mario Draghi hat als EZB-Präsident seine Vorstellungen bis zuletzt mitunter recht brutal durchgesetzt. Zuletzt war die Opposition im EZB-Rat extrem groß und trotzdem hat er durchgesetzt, was er wollte. Statt den Konsens zu suchen hat Draghi polarisiert und den EZB-Rat gespalten. Draghi hat den Bogen jetzt endgültig überspannt. Das ist nicht gut für die Institution EZB. Was bedeuten die offen zutage getretenen Gräben im EZB-Rat für Draghis Nachfolgerin Christine Lagarde, die am 1. November an die EZB-Spitze rückt?In der Sache wird sich wenig ändern und auch wenig ändern können. Lagarde hat bereits klargemacht, dass sie hinter Draghis Kurs der vergangenen Jahre steht, und sie hat signalisiert, dass sie noch mehr Spielraum für eine Lockerung der Geldpolitik sieht. Zudem sind mit den Beschlüssen vom 12. September zentrale Weichenstellungen erfolgt. Lagarde gilt aber als ausgleichender als Draghi, als mehr am Konsens orientiert. Sie dürfte versuchen, die Wogen zu glätten. Das geht aber nicht von einem Tag auf den anderen. Die Wunden, die jetzt geschlagen wurden, werden nicht so schnell verheilen. Und was bedeutet der Rückzug Lautenschlägers für das ohnehin schwierige Verhältnis zwischen EZB und Deutschland beziehungsweise der deutschen Öffentlichkeit?Der Rücktritt dürfte die Vorbehalte in der deutschen Öffentlichkeit gegen die EZB verstärken. Die Währungsunion hat sich verabschiedet von der ursprünglichen Konzeption einer Stabilitätsunion. Das ist bedenklich und gefährlich. Sie sind selbst 2011 aus Protest gegen die EZB-Politik in der Euro-Schuldenkrise aus dem Direktorium zurückgetreten. Ist das nicht auch eine Art Flucht aus Verantwortung?Sie können ganz sicher sein, dass man so eine Entscheidung nicht leichtfertig trifft. Wenn man ein solches Amt antritt, weiß man um die Verantwortung. Ich selbst war lange Zeit sehr loyal und habe meinen Widerspruch nur intern kommuniziert. Wenn die eigenen Bedenken nicht ernst genommen werden, muss man aber irgendwann die Konsequenzen ziehen. Dann bleibt nur der Abgang. Das Interview führte Mark Schrörs.