VOR DER ZINSWENDE

Draghis Dilemma

EZB im Zwiespalt zwischen überraschend starker Wirtschaft und unerwartet schwacher Inflation - Euro-Hüter nehmen "QExit" ins Visier

Draghis Dilemma

Von Mark Schrörs, FrankfurtSeit Mario Draghi im November 2011 an die Spitze der Europäischen Zentralbank (EZB) gerückt ist, kannte die Geldpolitik in Euroland eigentlich nur eine Richtung – immer lockerer. Gleich bei der ersten Sitzung unter Draghi senkte der EZB-Rat überraschend den Leitzins – und so ging es im Kampf gegen die Euro-Krise, das schwächelnde Wirtschaftswachstum und die Mini-Inflation weiter, bis hin zu Null- und sogar Negativzinsen sowie umfassenden Anleihekäufen (Quantitative Eeasing, QE).Im Jahr 2018 ändert sich daran erst einmal gar nicht so viel. Das QE-Programm soll bis mindestens Ende September laufen. Ab Januar wird das monatliche Kaufvolumen zwar von zuletzt 60 Mrd. Euro auf dann 30 Mrd. Euro halbiert. De facto aber wird die Geldpolitik, die aktuell gar lockerer ist als auf dem Höhepunkt der Weltfinanzkrise, damit zunächst noch expansiver. Und dennoch zeichnet sich auch im Euroraum zaghaft eine geldpolitische Umkehr ab.So hat der EZB-Rat zwar explizit kein Enddatum für QE genannt. Allerdings mehren sich die Stimmen, die ein Ende der Nettokäufe nach September 2018 nahelegen, allenfalls ergänzt um ein kurzes Auslaufenlassen (“Tapering”) – und es sind längst nicht mehr nur die Hardliner im Rat, die sich so äußern. Mit dem QE-Ende würden auch Zinserhöhungen zumindest wieder auf die Agenda rücken. Diese erscheinen aktuell eher ein Thema für 2019. Aber einige Beobachter prognostizieren zumindest eine erste Anhebung des Einlagenzinses von aktuell – 0,4 % bereits für Ende 2018. Tatsächlich ist die Zeit längst reif, den Einstieg in den Ausstieg aus der ultralockeren Geldpolitik anzugehen.Noch aber agiert der EZB-Rat sehr vorsichtig. Das hat viel zu tun mit dem Dilemma, mit dem die Notenbanker konfrontiert sind: Auf der einen Seite präsentiert sich die Euro-Wirtschaft in bester Verfassung. 2017 dürfte sie laut EZB-Prognose mit rund 2,4 % so stark wachsen wie seit einem Jahrzehnt nicht. Und auch die kurz- und mittelfristigen Aussichten sind gut, zumal auch die Investitionen anziehen. Die Investitionen waren lange das große Sorgenkind. Auf der anderen Seite aber kommt die Inflation nicht wie erhofft in Gang. Mehr noch als die Gesamtrate, die zuletzt im Dezember immerhin bei 1,5 % lag, enttäuschte zuletzt der zugrundeliegende Preisdruck, gemessen an der Kernrate ohne Energie und Lebensmittel. Die lag im Dezember bei 0,9 %. Die Euro-Notenbanker rätseln wie ihre Kollegen weltweit, warum sich das starke Wachstum kaum in höheren Preisen niederschlägt (siehe auch Seite 32).Unter dem Strich aber sind sie überzeugt, dass das primär ein temporäres Phänomen ist und die 2 % zunehmend in Sichtweite rücken – wofür in der Tat einiges spricht. Laut den neuesten EZB-Projektionen soll die Teuerungsrate 2020 im Schnitt bei 1,7 % liegen. Die Kernrate erwarten sie sogar bei 1,8 % – das wäre höher als der Durchschnitt während der gesamten Zeit der Währungsunion. Irlands Zentralbankchef Philip Lane, den manch einer gar als möglichen Draghi-Nachfolger 2019 sieht, warnte unlängst im Interview der Börsen-Zeitung davor, davon auszugehen, dass die Inflation auf ewig gedämpft bleibe – möglich sei auch, dass sich die Lohn- und Inflationsdynamik einmal nichtlinear “sehr plötzlich verstärkt” (vgl. BZ vom 10. November).Eine Rolle bei der großen Vorsicht der EZB spielt sicher auch, dass sie vielen als gebranntes Kind gilt: Im April und Juli 2011 erhöhte sie angesichts anziehender Inflation und Inflationserwartungen zweimal die Leitzinsen, obwohl die Wirtschaft bereits Schwächesignale sendete, die später in die längste Rezession des Euroraums mündeten. Bereits im November senkte sie die Sätze dann wieder – nach Draghis Amtsantritt. Zudem ist bei vielen Notenbankern die Sorge um den Erhalt der Eurozone mindestens im Hinterkopf. So mancher Euro-Hüter würde denn auch aktuell lieber etwas zu spät als zu früh die Wende einleiten wollen – auch weil die Notenbank kaum Munition zum neuerlichen Gegensteuern hätte, falls beim Exit etwas schiefgeht.Allerdings birgt auch ein zu später Ausstieg durchaus Gefahren – wie auch einige Euro-Währungshüter mitunter mahnen. So warnt etwa Benoît Coeuré, im EZB-Direktorium für Finanzmärkte verantwortlich und ein Vertrauter Draghis, vor negativen Folgen bei einem zu langen Festhalten an den Wertpapierkäufen. Dann bestehe die Gefahr von Finanzblasen.Das Thema Ausstieg, konkret: der “QExit”, gewinnt für die EZB aber auch deshalb zunehmend an Bedeutung, weil sie bei den Käufen immer stärker an selbst gesetzte Grenzen stößt, wie vor allem die Vorgabe, nicht mehr als 33 % einer Anleihe und eines Emittenten zu kaufen. Der Appetit, diese Grenzen anzutasten und damit neuerliche hitzige Debatten vor allem über das Verbot der monetären Staatsfinanzierung zu eröffnen, ist in Notenbankkreisen gering.Bereits Anpassungen an den Kaufprogrammen und erst recht ein Ende von QE dürften schon Auswirkungen auf die Kapitalmarktzinsen und die Zinsstrukturkurve haben – obwohl unklar ist, wie diese genau aussehen werden. Das zeigt das Beispiel der US-Notenbank Fed, die sich aktuell mit einem “Straffungsparadox” konfrontiert sieht: Sie erhöht die kurzfristigen Leitzinsen, aber die langfristigen Renditen sinken tendenziell eher.Was indes künftige tatsächliche Leitzinserhöhungen betrifft, lässt sich der EZB-Rat bis dato nicht in die Karten schauen. Bislang gibt es nur das Versprechen, Zinsanhebungen erst weit nach Ende der QE-Nettokäufe in Erwägung zu ziehen. Bei der Fed lagen zwischen dem QE-Ende im Oktober 2014 und der ersten Zinserhöhung im Dezember 2015 14 Monate. Bei dem gleichen Szenario für die EZB würde das bei einem QE-Ende im September 2018 eine erste Zinserhöhung im November 2019 bedeuten – genau einen Monat nach Ende von Draghis Amtszeit.