Draghis Zukunft sorgt für Nervosität
Von Gerhard Bläske, Mailand
Vor dem ersten Wahlgang zur Wahl eines neuen italienischen Staatspräsidenten am Montag wächst die Nervosität in der Wirtschaft und an den Finanzmärkten, denn von dem Votum hängt auch ab, ob Rom den eingeschlagenen Reformkurs fortsetzt. Bis ein Nachfolger von Amtsinhaber Sergio Mattarella gefunden ist, zeichnen sich mehrere Anläufe ab. Während zunächst eine Zweidrittelmehrheit der 1009 Wahlmänner und -frauen aus Abgeordnetenhaus, Senat und Regionen nötig ist, genügt vom vierten Wahlgang an die absolute Mehrheit von 505 Stimmen.
Offizielle Kandidaten gibt es keine, sie werden vorgeschlagen. Die Linksparteien warten ab. Nur Ex-Premier Silvio Berlusconi macht kaum einen Hehl aus seinen Ambitionen. Er versucht seit Wochen durch Telefonate und Treffen Wahlleute auf seine Seite zu ziehen. Doch der 85-jährige Medienmogul dürfte die notwendige Mehrheit trotz der halbherzigen Unterstützung durch die Rechtsparteien Lega und Fratelli d’Italia nicht erreichen. Berlusconi ist auch wegen seiner vielen Skandale und juristischen Verfahren nicht konsensfähig und zu alt, was öffentlich niemand sagt. Es wird erwartet, dass er in den nächsten Tagen seinen Verzicht bekannt geben wird.
Wirtschaft und Finanzmärkte verfolgen die Präsidentschaftswahl so aufmerksam wie nie. Der Spread zwischen deutschen und italienischen Zehnjahresanleihen ist auf 142 Basispunkte gestiegen, 50 Punkte über dem Wert vom Februar 2021, als Mario Draghi Premierminister wurde. Im Zentrum steht die Frage, wie es mit Draghi weitergeht. Unter ihm ist Italiens Wirtschaft stark gewachsen, er hat den internationalen Ruf des Landes aufpoliert, Reformen auf den Weg gebracht, ein Programm für die Verwendung der Mittel des EU-Wiederaufbaufonds erarbeitet und eine erfolgreiche Impfkampagne geführt. Investoren fürchten politische Instabilität und den Stopp des Reformprozesses, der Voraussetzung für die europäischen Hilfen ist, sowie steigende Zinsen, sollte Draghi keine führende Rolle mehr spielen.
Draghi ist Garant für den Reformkurs und Schutzschild des Landes. Die Meinungen gehen auseinander, ob er dem Land besser als Premierminister oder als Präsident nutzt. Über seine Absichten schweigt er.
Bliebe Draghi, den die meisten Beobachter als klaren Favoriten für das Amt des Präsidenten sehen, Premierminister, hätte er es nach Einschätzung von Giovanni Orsina, Professor für Zeitgeschichte der römischen Universität Luiss, künftig viel schwerer. Im Vorfeld der Parlamentswahlen im Frühjahr 2023 seien spätestens ab Sommer keine echten Reformen mehr in Italien möglich.
Viele Reformanhänger hielten es deshalb für besser, Draghi würde Präsident und zöge aus dem Hintergrund noch viele Jahre die Fäden. Zwar ist die Rolle des Präsidenten in Italien bei weitem nicht so stark wie etwa in Frankreich, doch deutlich stärker als die des Bundespräsidenten. Vor allem in Krisenzeiten ist sein Einfluss groß. Er kann das Parlament auflösen, einen Kandidaten für die Regierungsbildung auswählen und Minister ablehnen. Mattarella verhinderte 2018 Euro-Gegner Paolo Savona als Wirtschaftsminister.
Würde Draghi Präsident, bliebe die Unsicherheit über eine neue Regierung oder gar Neuwahlen. Orsina glaubt, die bisherige Regierungsmehrheit könnte halten, weil niemand Interesse an Neuwahlen habe. Unter einem Präsidenten Draghi rechnet Orsina selbst dann mit Nachsicht der EU-Kommission, wenn der Reformkurs ins Stocken geriete. Draghi habe großen Einfluss und beste Kontakte nach Brüssel, Paris und Berlin, und die EU wolle kein Exempel an Italien statuieren. Und: Italien sei „too big to fail“.
Anders sähe es nach Ansicht vieler Beobachter aus, wenn ein Präsident gewählt würde, der keine breite Mehrheit hinter sich hat. Schon unter Draghi wurden zuletzt zahlreiche Reformen verwässert und die Spannungen in der Regierung stiegen, etwa in der Frage einer Impfpflicht, einer Rentenreform oder der Liberalisierung von Märkten. Es bestünde die Gefahr, dass die großen Probleme wie die mit 155% des Bruttoinlandsprodukts riesige Verschuldung, die geringe Innovationskraft, die niedrige Produktivität und die ineffiziente Bürokratie in den Vordergrund rücken und die Spread-Aufschläge steigen, meint Oxford Economics.
Italien kann nach verbreiteter Auffassung ohne Hilfen der EU und eine ultralockere Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) nicht überleben. Draghi ist der Garant für weitere Hilfen. Die Herausforderungen für das Land werden mit dem absehbaren Ende der EZB-Krisenpolitik, möglichen Zinserhöhungen, geopolitischen Konflikten und der Inflation sicher nicht kleiner. Doch auch Draghi ist kein Übermensch. Die meisten Investoren rechnen mit einem steigenden Spread. Worst Case wäre für sie die Wahl Berlusconis.