"Durchwurschteln ist keine Option mehr"

Euro-Sherpa Thomas Wieser zu Europas Zukunft

"Durchwurschteln ist keine Option mehr"

Von Stephan Lorz, FrankfurtPopulismus allerorten, Rückzug in den Nationalstaat sowie wachsende Kritik an der fehlenden demokratischen Legitimität supranationaler Institutionen weltweit – und in Europa: Das europäische Einigungswerk scheint an einem Wendepunkt und erfordert neue Herangehensweisen, um es zu bewahren. Thomas Wieser, Vorsitzender der Euro Working Group in Brüssel, des entscheidenden Arbeitsgremiums, das die Beschlüsse der Euro-Finanzminister vorbereitet, ist sich der Gefahrenlage durchaus bewusst. Noch sei man sich in Brüssel aber nicht einig, ob es sich nur um einen kleinen “Auffahrunfall” handele, nach dem man die Fahrt – etwas verlangsamt – in gleicher Weise wieder fortsetzen könne, oder tatsächlich um einen Paradigmenwechsel der Nachkriegszeit, sagte er bei einem Vortrag in Frankfurt.Entscheidend ist in seinen Augen, ob die Zweifel, die in der Öffentlichkeit an den internationalen Institutionen insgesamt und den getroffenen Regelungen geäußert werden, noch rechtzeitig ausgeräumt werden können. Letztlich, so Wieser, gehe es nämlich darum, den Menschen wieder die Zuversicht zurückzugeben, dass sie mit der etablierten Struktur der internationalen Zusammenarbeit ihre Lebenschancen wahren und verbessern können. Da habe es zuletzt Versäumnisse gegeben, weil der Ausgleich etwa zwischen Gewinnern und Verlierern der Globalisierung und des freien Kapitalverkehrs nicht mit Engagement vorangetrieben worden sei. Wieser selbstkritisch: “Wir Ökonomen und Politiker haben zu wenig auf die Lebenschancen der Menschen geachtet.”Das Problem: Kommt es zu einer schleichenden Rückabwicklung internationaler Strukturen und der Liberalisierung, wofür sich nach Meinung Wiesers mit dem angekündigten Rückzug der USA, dem Brexit und den Nationalisierungstendenzen erste Signale ausmachen lassen, sei es vielleicht bald zu spät. Nach der Aufkündigung etwa der Finanzregulierung könnte bald auch der Binnenmarkt in den Strudel mitgerissen werden, wenn alle nur auf den eigenen Vorteil bedacht seien. “Durchwurschteln wie bisher”, so Wieser, “ist also keine Option mehr.” Auf Kosten BrüsselsDer Chef der Brüsseler Euro-Arbeitsgruppe zeigte sich aber recht ratlos, wie man die Bürger wieder für die europäische Sache begeistern kann. Zumal ihr Verhalten in seinen Augen bisweilen unlogisch erscheint: Während Brüssel mit der Regelung der Bankenabwicklung die Steuerzahler etwa in Italien schützen wollte, wehrte sich die Öffentlichkeit dort gegen europäische Fremdbestimmung – und akzeptierte sogar den Einsatz von Steuergeld.”Naive Europa-Rhetorik” bewirkt nach Ansicht von Wieser dabei eher das Gegenteil. Selbst die Etablierung eines europäischen Finanzministers wäre für ihn nur Symbolpolitik. Auch gemeinsam finanzierte Investitionsfonds hält er nur für einen Tropfen auf den heißen Stein. Vielmehr sei entscheidend, die nationalen Parlamentarier für die Europa-Themen zu gewinnen. Die Existenz des Europäischen Parlaments hält er insofern für “kontraproduktiv”, “weil Europa dorthin abgewälzt” und im Gegenzug in den heimischen Parlamenten “auf Kosten Brüssels agiert” würde.