LEITARTIKEL

Ein Sieg allein reicht nicht

Frankreichs europäische Partner und die Märkte halten gebannt den Atem an, wenn die zweitgrößte Volkswirtschaft der Eurozone am Sonntag ihr nächstes Staatsoberhaupt wählt. Vom Ausgang der Präsidentschaftswahl hängt nicht nur die Zukunft Frankreichs,...

Ein Sieg allein reicht nicht

Frankreichs europäische Partner und die Märkte halten gebannt den Atem an, wenn die zweitgrößte Volkswirtschaft der Eurozone am Sonntag ihr nächstes Staatsoberhaupt wählt. Vom Ausgang der Präsidentschaftswahl hängt nicht nur die Zukunft Frankreichs, sondern auch die des Euroraums ab. Spätestens nach der Fernsehdebatte zwischen den beiden verbliebenen Kandidaten sollte es für die Wähler eigentlich keinen Zweifel mehr geben, dass Marine Le Pen für das Amt vollkommen ungeeignet ist. Denn die Kandidatin des rechtsextremen Front National hat in der Debatte ihr wahres Gesicht enthüllt, sich mit ihrer Aggressivität, ihren Lügen und ihrer Phrasendrescherei selbst diskreditiert.Und doch wäre es ein Fehler, den Sieg von Ex-Wirtschaftsminister Emmanuel Macron bereits als gegeben hinzunehmen. Zwar kann er laut Umfragen in der Stichwahl auf 59 % bis 60 % der Stimmen hoffen. Doch es gibt noch einige Unsicherheitsfaktoren. Die Gefahr ist groß, dass viele Wähler lieber den Feiertag am 8. Mai für ein verlängertes Wochenende nutzen, als zur Urne zu gehen, da sie glauben, dass Macron ohnehin gewinnen wird. Zudem dürfte sich ein Teil der Wähler der unterlegenen Kandidaten François Fillon und Jean-Luc Mélenchon aus Enttäuschung der Stimme enthalten. Genau wie die “ni-ni-Vertreter”, die in den letzten Tagen gegen die beiden Kandidaten der Stichwahl demonstrierten und dabei “ni Le Pen, ni Macron” (weder Le Pen noch Macron) oder “ni banquier, ni facho” (weder Banker noch Faschist) skandierten und damit der Banalisierung des Front National weiteren Vorschub leisteten.Entscheidend dafür, ob die durch die französische Präsidentschaftswahl ausgelöste Unsicherheit tatsächlich endet, wird deshalb nicht nur sein, ob Macron am Sonntag gewinnen wird. Ob die Märkte wieder dauerhaft Vertrauen in Frankreich fassen, wird auch davon abhängen, mit welchem Vorsprung Macron Le Pen besiegen kann und ob es seiner erst vor einem Jahr gegründeten Bewegung En Marche bei der Parlamentswahl Mitte Juni gelingen wird, auf eine Mehrheit zu kommen.Es wäre ein Desaster, sollte Macron am Sonntag nur 55 % der Stimmen oder weniger erhalten. Um Frankreich zu erneuern und im Parlament auf eine Mehrheit zu kommen, benötigt er mehr Rückhalt. Doch selbst die von den Umfragen für Le Pen vorhergesagten 40 % bis 41 % wären kein Triumph. Im Gegenteil, denn sie wären nach der ersten Wahlrunde ein weiterer Beleg dafür, dass ein nicht unerheblicher Teil der französischen Bevölkerung eine Kandidatin unterstützt, die weder die demokratischen, sozialen und wirtschaftlichen Normen der V. Republik akzeptiert noch die Europäische Union. Doch trotz des Ausscheidens der beiden großen Parteien, die in den vergangenen Jahrzehnten die Politik in Frankreich bestimmten, scheint ein Teil der französischen Elite diese Realität noch immer zu leugnen.Dabei hat sich bereits nach dem ersten Wahlgang am 23. April gezeigt, welch tiefer Graben Frankreich spaltet. Da ist zum einen das welt- und europaoffene Frankreich Macrons, der vor allem in Großstädten, dem wirtschaftlich wie demografisch dynamischen Westen und bei den Besserverdienenden gut abgeschnitten hat. Da ist auf der anderen Seite das sich benachteiligt fühlende Frankreich Le Pens, deren Wähler oft der Arbeiterklasse, kleineren Städten, dem vom industriellen Niedergang geprägten Osten und Norden sowie dem Süden entstammen, wo viele sogenannte “Pieds noirs” leben, Algerienfranzosen und ihre Familien. Die Front-National-Kandidatin weiß genau, mit welchen Argumenten sie auf die Ängste dieser Gruppen eingehen kann.Sollte Macron tatsächlich die zweite Wahlrunde am Sonntag gewinnen, wird eine der größten Herausforderungen für ihn darin bestehen, dieser Wählerschaft zu beweisen, dass er ihre Ängste und Sorgen verstanden hat. Wenn er als künftiges Staatsoberhaupt erfolgreich sein und Frankreich wie versprochen wieder zu neuem Schwung verhelfen will, muss er all diesen Enttäuschten die Hoffnung in das politische System und die EU zurückgeben. Nur wenn das gelingt, kann ein weiteres Erstarken des Front National, des Linkspopulisten Mélenchon und anderer europa- und demokratiefeindlicher Politiker verhindert werden. Sollte Macron jedoch gewinnen und an dieser Aufgabe scheitern, droht Frankreich und der Eurozone spätestens bei den nächsten Präsidentschaftswahlen in fünf Jahren großes Ungemach. Denn dann würde ein Sieg Le Pens nur noch schwer zu verhindern sein.——–Von Gesche WüpperEin Sieg Emmanuel Macrons bei der Präsidentschaftswahl allein genügt nicht – er muss das Bild des politischen Systems und der EU beim Volk geraderücken.——-