Eine Analyse: Ist Indien das neue China?
Indien ist groß, seine Bevölkerung ist jung und die Regierung hat verschiedene „wirtschaftsfreundliche“ Reformen auf den Weg gebracht. Die Weltbank stuft Indien jedoch nach wie vor als „Land mit geringem Einkommen“ ein. Die Argumente für Geldanlage in Indien beruhen auf der Annahme, dass das Land relativ leicht in die Gruppe der Länder mit „mittlerem Einkommen im oberen Bereich“ aufsteigen kann. Das würde bedeuten, dass es sein Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf auf über 4.466 USD verdoppeln kann. Eine derartige Entwicklung wäre außergewöhnlich und unterstreicht das äußerst interessante Potenzial, welches Indiens Technologie-, Software- und Kommunikationssektoren bieten. Man kann davon auszugehen, dass sich das Wachstum der Mittelschicht positiv auf alle Aspekte der Bereiche Konsumgüter und Wohnimmobilien und damit zusammenhängende Sektoren auswirken wird.
Um diese Veränderungen umsetzen und dieses Potenzial freisetzen zu können, muss Indien unseres Erachtens eine Kombination aus langfristigen politischen Maßnahmen umsetzen, um strukturelle Einschränkungen anzugehen, und kurzfristige, pragmatische Infrastrukturinvestitionen tätigen. Das übergeordnete Prinzip sollte die Schaffung der Voraussetzungen für eine Unterstützung des Wachstums sein. Dabei sollte ein einheitlicher Ansatz verfolgt werden, der Beschäftigung, Bildung, Infrastrukturinvestitionen und Bewältigung des Klimawandels abdeckt
Schub für die wirtschaftliche Entwicklung
Der Handel ist ein wichtiger potenzieller Motor für Wirtschaftswachstum und Beschäftigung. Laut der Welthandelsorganisation (WTO), der Indien 1995 beitrat, lag der durchschnittliche Meistbegünstigungszollsatz auf Einfuhren, den Indien anwendete, 2022 bei 18,1%. Dies war der vierthöchste Wert in der Welthandelsorganisation (WTO), nach dem Sudan (21%), Tunesien (19%) und Algerien (18,9%). Zum Vergleich: Der Wert für die Europäische Union beträgt 5,1%, für die USA sind es 3,3%.
Bei Agrarimporten beträgt der entsprechende Zollsatz Indiens 39,6%. Das Tempo der Entwicklung könnte weiter beschleunigt und auf mehr Sektoren ausgeweitet werden. Möglich wäre dies durch einen Beitritt zu Freihandelsabkommen wie der Comprehensive and Progressive Agreement for Trans-Pacific Partnership (CPTPP). Damit würde das Land auf den Schutz seiner Binnenwirtschaft verzichten, hätte dafür aber Marktzugang zu elf Ländern, die 15,6% des weltweiten BIP ausmachen. Unseres Erachtens hat Indien die Möglichkeit, seiner wirtschaftlichen Entwicklung einen kräftigen Schub zu verleihen. Das Land könnte eine wichtige Integration mit dem weltweiten Handelssystem erreichen und in Asien und der gesamten Welt sein „geopolitisches Gewicht in die Waagschale werfen“.
Bedarf an gut ausgebildeten Arbeitskräften
Indiens junge Bevölkerung wird in der Regel als Vorteil genannt, die Realität ist jedoch komplexer. Natürlich ist es gut, wenn ein Land viele junge Einwohner hat, aber sie müssen auch gesund genug sein, um arbeiten zu können. Außerdem müssen sie gut ausgebildet sein, damit sie die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten für den Arbeitsmarkt besitzen. Indien benötigt keine Millionen von Hochschulabsolventen, sondern vielmehr einen relativ gut ausgebildeten Pool junger Menschen, denn für sie lässt sich leichter ein Arbeitsplatz finden. Angesichts des Trends hin zu Automatisierung und künstlicher Intelligenz (KI) facht das Wachstum der „Wissenswirtschaft“ den Bedarf an gut ausgebildeten Arbeitskräften an. Eine junge, gut ausgebildete Erwerbsbevölkerung lockt Investitionen in produktive Bereiche mit hohen Margen an. Dadurch wird wiederum das Wirtschaftswachstum angekurbelt.
Klimaauswirkungen
Die Anfälligkeit des Landes für den Klimawandel und die möglichen Folgen für das soziale Gefüge sind nicht unbedingt bekannt. Indien setzt mehr als 90% seines Trinkwassers in der Landwirtschaft ein. Das ist ganz eindeutig ineffizient, der weltweite Durchschnitt liegt bei 70%. Millionen von Landwirten hängen jedoch nach wie vor von den Monsunregen ab, die inzwischen weniger regelmäßig sind. Gleichzeitig haben Hitzewellen in den vergangenen 20 Jahren zugenommen. Unterdessen gehören die Becken der Flüsse Indus, Brahmaputra und Ganges laut einer Studie der Europäischen Kommission zu den wasserärmsten Flussbecken weltweit. Ursachen sind die geringeren Mengen an saisonalem Schmelzwasser aus der Hindukusch-Himalaya-Region aufgrund der negativen Auswirkung des Klimawandels, die steigenden Bevölkerungszahlen in Pakistan, Indien und Bangladesch, welche die vorhandenen Wasserressourcen belasten, und die Gefahr, dass China zukünftig Wasser ableiten könnte.
Anleger setzen auf Gewinnwachstum
Die Bewertungen am indischen Aktienmarkt legen den Schluss nahe, dass Anleger von der Wahrscheinlichkeit eines Gewinnwachstums sehr überzeugt sind. Sie zeigen aber auch, dass der Streubesitz niedriger ist, die Kontrolleure/Unterstützer von Unternehmen halten in der Regel einen Anteil von knapp 50% an börsennotierten Unternehmen. Dagegen haben Privathaushalte mit mittlerem Einkommen nur 10% ihres Vermögens in Publikumsfonds oder Kapitalmarktanlagen investiert. In der Zukunft könnte es also zu einer Welle von Investitionen inländischer Anleger kommen. Wichtig ist auch, dass bestimmte Sektoren in Indien, darunter Unternehmen im Bereich schnell drehende Konsumgüter, Margen erzielen, die deutlich über dem weltweiten Durchschnitt liegen. Die Entwicklung des inländischen Rentenmarktes lässt unterdessen darauf hoffen, dass sowohl der Regierung als auch den Unternehmen in Zukunft bessere Finanzierungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen.
In der Regel interessieren sich internationale Anleger für wachstumsstarke Volkswirtschaften, weil sie davon ausgehen, dass diese Märkte für Aktieninvestoren vielversprechender sind. Doch die Erfahrung hat gezeigt, dass die Aktienrenditen nur selten über einen längeren Zeitraum mit dem nominalen BIP-Wachstum Schritt halten können. In der folgenden Grafik sieht man, dass in China das BIP-Wachstum in den vergangenen 30 Jahren bei durchschnittlich jährlich 8,65% lag, die Gesamtrendite am Aktienmarkt dagegen im Schnitt nur 0,7% betrug. In Indien belief sich das BIP-Wachstum im Schnitt dagegen auf jährlich 6,5%, doch der Aktienmarkt hat im gleichen Zeitraum eine durchschnittliche Gesamtrendite von 9,4% erzielt.
Indien ist nach wie vor ein interessantes Land für Anleger, aber die Möglichkeiten sind inzwischen enger definiert als in der Vergangenheit. Für Anleger ist Indien unseres Erachtens nicht das neue China. Es ist möglicherweise ein neues Indien.
Über den Gastautor: Kim Catechis ist Investment Strategist beim Franklin Templeton Investment Institute