Entwicklungshilfekritiker erhält Nobelpreis
Von Stephan Lorz, FrankfurtDie Wahl des diesjährigen Nobelpreisträgers für Wirtschaftswissenschaft dürfte die globale Entwicklungshilfeindustrie nicht gerade erfreuen. Denn der britisch-amerikanische Ökonom Angus Deaton (69) gehört zu ihren kenntnisreichsten und damit schärfsten Kritikern. Er wirft den staatlichen, halbstaatlichen und privaten Hilfsorganisationen vor, mit ihren Projekten den dysfunktionalen Status quo vieler armer Länder eher zu festigen, statt zu verbessern – und sie noch weiter in die Abhängigkeit ausländischer Hilfszahlungen zu ziehen.Durch die Hilfsgelder und Projekte würde schließlich die Entwicklung lokaler Staatlichkeit unterminiert, die notwendig ist, damit sich verlässliche Strukturen entwickeln etwa im Bildungsbereich. Mit den Hilfsgeldern würden die Regierungen die Entwicklungsarbeit obendrein eher den fremden Organisationen überlassen, als selber aktiv zu werden, seien infolgedessen weniger auf das Wohlwollen ihrer Bürger aus als auf das ihrer Geldgeber. Statt mehr Geld in die Entwicklungshilfe zu pumpen, sollte der Waffenhandel eingeschränkt, die Handels- und Subventionspolitik der reichen Länder verbessert werden, mahnt er.Gleich im ersten Interview nach Bekanntgabe des diesjährigen Preisträgers hatte sich Deaton auch zur aktuellen Flüchtlingskrise geäußert. Sie ist seiner Einschätzung nach – neben anderen Auslösefaktoren wie etwa Krieg – auch eine Folge der globalen Ungleichheit, wie sie sich über Hunderte von Jahren entwickelt und sogar noch verschärft hatte. Die reichen Länder hätten die armen Staaten immer weiter hinter sich gelassen. Die Menschheit lebt aber inzwischen in einer globalisierten Welt – und der Flüchtlingsstrom ist die natürliche Reaktion. Eine Reduzierung der Armut und eine Befriedung der Regionen seien insofern der Schlüssel für das Problem, so Deaton.Dem Thema Ungleichheit widmet sich Deaton schon seit geraumer Zeit, macht dabei aber weniger Lärm als Starökonom Thomas Piketty. Ihm gehe es “nicht um die Eleganz der Methode oder die Ästhetik der Formulierung”, schreibt der Präsident des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI), Christoph M. Schmidt, der bei seiner Promotion von Deaton mit betreut worden war. Stattdessen stehe für Deaton im Vordergrund, ob die vorgelegte Analyse tatsächlich dazu beitrage, die menschliche Erkenntnis zu erweitern.Während sich Piketty vor allem um die landesinterne Ungleichheit kümmert, geht Deaton das Problem auf globaler Ebene an und gelangt mit den Methoden der Konsumforschung zudem an die Wurzel menschlichen Handelns. Das macht ihn auf jeden Fall nobelwürdig.Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, bezeichnete die Auszeichnung Deatons als “exzellente Wahl”. Zumal auch die Forschungen von Deaton zeigten, wie “schädlich heutige hohe Ungleichheit für Wirtschaft und Gesellschaft ist”. 2010 erregte Deaton öffentliches Aufsehen mit einer gemeinsam mit Nobelpreisträger Daniel Kahnemann veröffentlichten Studie, wonach Geld entgegen der Volksweisheit doch glücklich macht – über einem gewissen Niveau (damals 75 000 Dollar) aber kaum mehr zum Wohlbefinden beiträgt.Die Königlich-Schwedische Akademie der Wissenschaften begründete am Montag ihre diesjährige Entscheidung denn auch damit, dass es in der Arbeit Deatons um den Entwurf einer Wirtschaftspolitik geht, die “das Wohlergehen fördert und die Armut reduziert”. Hierfür müsse man zunächst die individuellen Konsumentscheidungen verstehen. So hat Deaton durch die Ergänzung makroökonomischer Daten mit Haushaltsbefragungen festgestellt, dass sich Konsumenten vielfach eben nicht rational verhalten, wie in vielen Theorien unterstellt, dass sich ihr Ausgabeverhalten nicht unbedingt in der Entwicklung ihres Einkommens spiegelt und dass unterschiedliche Einkommens- und Haushaltsklassen zudem auch noch unterschiedlich auf gleiche Umstände reagieren. Das ist wichtig für Folgeabschätzungen etwa von Steueränderungen und bei der Instrumentenwahl für die Armutsbekämpfung. Unterernährung, so eine von Deatons Erkenntnissen, ist zwar eine Folge geringen Einkommens – das gilt aber nicht umgekehrt.Der Nobelpreis im Fach Wirtschaftswissenschaften wird erst seit Ende der sechziger Jahre verliehen. Er ist mit 8 Mill. skr (etwa 850 000 Euro) dotiert. Anders als die traditionellen Nobelpreise geht er nicht auf das Testament des Dynamit-Erfinders Alfred Nobel zurück. Die Reichsbank in Schweden stiftete den Preis erst 1968. Er heißt deshalb auch nicht offiziell Nobelpreis, sondern “Preis der schwedischen Reichsbank für Wirtschaftswissenschaften zum Andenken an Alfred Nobel”. Verliehen wird der Preis gemeinsam mit den klassischen Nobelpreisen am 10. Dezember, dem Todestag Nobels. 2014 war der Franzose Jean Tirole für seine Forschungen über Marktmacht und Regulierung mit der Auszeichnung geehrt worden.