IM INTERVIEW: BEATA JAVORCIK

"Es wird ein weiterer Wandel sein"

Die Chefvolkswirtin der Förderbank EBRD über die Autobranche in Osteuropa, die Gig Economy und die Niedrigemissionswirtschaft

"Es wird ein weiterer Wandel sein"

Die Chefvolkswirtin der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD), Beata Javorcik, warnt vor den Auswirkungen der laufenden handelspolitischen Spannungen auf die Autobranche in Osteuropa. Frau Javorcik, wie wirkt sich der laufende Handelsstreit auf die osteuropäischen Länder aus, in denen die EBRD tätig ist?Wir erwarten eine wirtschaftliche Verlangsamung, die größtenteils auf die Autobranche zurückgeht. Die Länder, in denen wir tätig sind, ob es sich dabei nun um Zentraleuropa, die Türkei oder Serbien handelt, haben in hohem Maße von ausländischen Direktinvestitionen in die Autobranche profitiert. In welcher Form?Die Produktion der Branche hat sich in diesen Ländern seit 1997 mehr als vervierfacht. Es ist nicht so bekannt, aber die Slowakei ist das weltweite Kraftzentrum der Autobranche. Dort werden 200 Kraftfahrzeuge pro 1 000 Einwohnern hergestellt, wesentlich mehr als in Südkorea, Japan oder Deutschland. Und in den anderen Ländern?Auch Tschechien, wo wir nicht mehr tätig sind, oder Ungarn produzieren mehr Kfz pro Einwohner als Südkorea. In manchen dieser Länder ist die Branche sehr wichtig für die Exporte und die Industrieproduktion. Wenn man sich die Slowakei, Tschechien und Ungarn ansieht, steuert sie ein Viertel zu den Ausfuhren und zwischen 10 und 15 % zur Bruttowertschöpfung bei. Was bedeutet das für die Beschäftigung?In der Slowakei lassen sich fast 5 % der gesamten Beschäftigung direkt der Autobranche zurechnen, in Tschechien sind es etwa 4,5 %, in Ungarn sind es um die 3,5 %, in Rumänien 3 %. Und wir sprechen hier nicht von der indirekten Beschäftigung. Zum Vergleich: In Deutschland sind es 3 %, in Polen 2 %. Wichtig ist aber nicht nur, dass die Branche eine große Rolle bei der Beschäftigung spielt, sondern dass es sich dabei um Beschäftigung handelt, die in den vergangenen Jahrzehnten stark gewachsen ist. Wie stark?In Polen hat sie um 50 % zugelegt. Das gilt auch für die Türkei. In der Slowakei, Rumänien und Ungarn hat sie sich nahezu verdoppelt, in Serbien annähernd verdreifacht. Die Autobranche hat wesentlich schneller Stellen geschaffen als der Rest des verarbeitenden Gewerbes oder andere Sektoren dieser Volkswirtschaften. Unsere Tätigkeitsländer sind im Vergleich zu anderen Ländern auf diesem Entwicklungsniveau sehr stark von Industriearbeitsplätzen abhängig. Sind die aktuellen handelspolitischen Spannungen also ein größeres Problem für diese Länder?Wenn man den direkten Anteil der Autobranche an der Gesamtbeschäftigung vergleicht, werden sie davon härter getroffen. Es gibt eine sehr hohe Korrelation zwischen den Ausfuhren dieser Länder und den deutschen Exporten. Sie sind sehr stark vom deutschen Markt abhängig. Wenn die deutsche Industrieproduktion und die deutschen Ausfuhren nicht gut laufen, werden sie es zu spüren bekommen. Wie muss man sich das vorstellen?Der laufende weltweite Rückgang der Autoproduktion und die Verlangsamung in Deutschland sind in diesen Ländern bereits sichtbar. Es gibt bereits Frühindikatoren, die auf eine konjunkturelle Verlangsamung hindeuten. Sie werden davon getroffen. Wir haben das in unseren Schätzungen bereits berücksichtigt. Wir rechnen damit, dass die Slowakei in diesem und im nächsten Jahr um 2,5 % wachsen wird. Für ein Land auf dieser Entwicklungsstufe ist das weit unter Potenzial. Die transatlantischen Auseinandersetzungen und die Möglichkeit, dass höhere Zölle auf Autos aus der EU erhoben werden könnten, betreffen nicht nur die deutsche Autoindustrie, sondern auch unsere Tätigkeitsländer. Was man ebenfalls beobachten muss, ist, wie sich die Welthandelsorganisation WTO im Fall Boeing entscheidet. Warum ist das wichtig?Es geht darum, ob Boeing subventioniert worden ist. Das könnte der EU die Möglichkeit geben, Strafzölle gegen die Vereinigten Staaten zu verhängen, und potenziell zu einer Eskalation führen. Das ist eines der Risiken, das wir für unsere Schätzungen sehen. Ganz allgemein gesprochen ist mit Blick auf den Handel sehr beunruhigend, dass die WTO geschwächt wird, dass sie umgangen wird und Konflikte bilateral statt durch ihre Mechanismen gelöst werden. Die Ernennung von Richtern für ihr Berufungspanel wurde blockiert. Das spielt heute vielleicht noch keine Rolle. Es spielt auch keine Rolle für Länder wie die EU-Mitgliedstaaten, die keine eigene Handelspolitik verfolgen. Aber es spielt eine Rolle für unsere anderen Tätigkeitsländer, insbesondere für die kleinen. Weshalb?Die große Errungenschaft der WTO war, dass Handelskonflikte friedlich beigelegt werden konnten und dass die Streitschlichtungsmechanismen kleinere Länder davor schützten, von größeren eingeschüchtert zu werden. Wird die WTO unterminiert, wird das langfristig für die kleinen Länder kostspielig. Was bedeutet das für die Zukunft?Einer der langfristigen Trends ist, dass die ausländischen Direktinvestitionen nachlassen oder stagnieren. Das gilt auch für den Handel in intermediären Gütern, im Grunde ein Synonym für die globalen Wertschöpfungsketten. Und das wird von einer ganzen Reihe von Faktoren getrieben. Einerseits sind die Früchte solcher Wertschöpfungsketten größtenteils geerntet. Die Zölle sind ziemlich niedrig. Die Ungewissheit über die künftigen Handelsbeziehungen bedeutet, dass Direktinvestitionen im Ausland weniger attraktiv werden. Man weiß ja nicht, zu welchen Bedingungen die eigenen Produkte in Exportmärkte ausgeführt werden können. Dazu kommt die Automatisierung, die dazu führt, dass Lohnunterschiede weniger wichtig werden. In Zentraleuropa wird das Wachstum jetzt weniger durch Investitionen getrieben als durch den Konsum, was zum Teil am Rückgang der ausländischen Direktinvestitionen liegt. Der private Konsum wird durch Lohnwachstum und enge Arbeitsmärkte befördert. Und jenseits von Europa?In den zentralasiatischen Ländern sehen wir den Einfluss Chinas. Wir sind weniger optimistisch als der IWF, was das chinesische Wachstum angeht. Wir haben für unsere Schätzungen handelspolitische Spannungen unterstellt. Vor einem Jahrzehnt ist die Volksrepublik noch um mehr als 10 % pro Jahr gewachsen. Jetzt liegt das Wachstum eher bei 6 %. Oder 2 bis 3 %, je nachdem wen man fragt.Über die exakten Zahlen kann man sich streiten, aber sie sind auf jeden Fall viel niedriger als das zweistellige Wachstum zuvor. Die zentralasiatischen Länder werden das spüren. Neun Zehntel der mongolischen Exporte, vier Fünftel der Ausfuhren von Turkmenistan, ein Viertel der Ausfuhren von Usbekistan gehen ins Reich der Mitte. Diese drei Länder sind in den vergangenen zehn Jahren abhängiger von China geworden. Das bedeutet, dass sich eine Verlangsamung dort auf ihre Exporte und ihr Wachstum auswirken wird. Führt das nicht dazu, dass alternative politische und ökonomische Modelle wie der Kommunitarismus an Zulauf gewinnen?Viele Leute sprechen über die 30 Jahre des Übergangs und die Enttäuschungen, die diese Jahre gebracht haben, die Unzufriedenheit mit der liberalen Demokratie. Aber wenn man sich dagegen die Unterstützung für die Europäische Union ansieht, liegt die in Polen bei um die 90 %. Ich würde zumindest in den neuen EU-Mitgliedsländern keine großen Verschiebungen erwarten. Und wenn die EU die Legalisierung von Abtreibungen fordern würde, wären 90 % dagegen.Nein, nein, nein, sicher keine 90 %! Ich denke, es handelt sich um Unterstützung für die EU als Handelsblock, für das Schengen-Abkommen und als Quelle von Strukturhilfen. Je nachdem, wen man fragt, sehen manche Leute auch einen großen Vorteil darin, dass die EU die Handlungsfreiheit der politischen Entscheidungsträger beschränkt, etwa indem sie das Haushaltsdefizit und die Entwicklungen im Rechtssystem genau verfolgt. Die liberale Demokratie mag unter Beschuss stehen. Die Frage ist aber auch, wo die neuen EU-Mitgliedstaaten heute sein würden, wenn sie nicht Mitglieder der EU geworden wären. Woher kommt dann die Unzufriedenheit?Die Kritik in Osteuropa wird von ähnlichen Faktoren getrieben wie im Westen, etwa die steigende Einkommensungleichheit, was zum Teil durch die Dekompression der Arbeitseinkommen bedingt war, die nach dem Fall der Berliner Mauer erfolgen musste. Kommunistische Länder hatten Vollbeschäftigung und eine sehr enge Lohnstruktur, wenig Differenzierung, keine Verbindung zwischen Produktivität und Löhnen. Das musste sich offenkundig auf dem Weg zur Marktwirtschaft ändern. Dazu kamen die großen technologischen Veränderungen, die wir beobachtet haben. Veränderungen ähnlicher Tragweite, wie sie die industrielle Revolution mit sich brachte, vollziehen sich innerhalb eines Jahrzehnts. Das hat zu mehr Ungleichheit geführt. Und die Globalisierung?Die Globalisierung hat ebenfalls eine, wenn auch kleinere Rolle dabei gespielt. Automatisierung und Outsourcing schaffen Ungewissheit, wenn es um die Arbeitsplätze geht. In kommunistischen Ländern war der Arbeitsplatz garantiert. Man arbeitete den Großteil seines Lebens für den gleichen Arbeitgeber. Heute gibt es keine lebenslange Beschäftigung mehr. Es gibt nicht einmal die Garantie, dass der Arbeitsplatz in fünf Jahren noch da sein wird. Reisebüromitarbeiter ist ein Job, der der Vergangenheit angehört. Und die Ungewissheit?Die Menschen können mit Ungewissheit nicht gut umgehen. Das haben die Menschen in Osteuropa mit denen in Westeuropa gemeinsam. In Osteuropa bedeutete der Übergang zur Marktwirtschaft Arbeitslosigkeit. Das war ein neues Phänomen, das auf Widerstand stieß. Die Welt verändert sich, und es ist nicht leicht. Wenn man nach vorne blickt, ist nicht unvorstellbar, dass wir in manchen Sektoren eine globale Gig Economy haben werden. Wenn es um den weltweiten Güterhandel geht, sind viele Früchte schon geerntet worden. Der nächste Schritt, wo noch große Vorteile warten, sind Dienstleistungen. Man könnte sich eine weltweite Plattform vorstellen, auf der Aufgaben – Gigs – ausgeschrieben und Leute dafür Angebote abgeben können. Vermutlich wären das keine hoch bezahlten Gigs. Teilweise passiert das ja schon. Hier in Großbritannien kann man eine virtuelle Assistentin in Indien als Sekretärin beschäftigen.Es wird mehr und mehr davon geben. Und das bedeutet, dass wir über das gesamte System der sozialen Sicherheit neu nachdenken müssen. Und deshalb glaube ich, dass alternative politische und wirtschaftliche Modelle im Kommen sind. Denn die Leute werden das nicht einfach hinnehmen.In der Tat. Die Frage bei diesem Modell ist, wo die Vorteile anfallen und wer den Gewinn einfährt. Es wird die Plattform sein und je größer die Plattform, desto größer der mögliche Gewinn. Das wird schwer zu regulieren sein. Denken Sie nur an die laufende Debatte über Internetkonzerne, oder wie schwierig es ist, E-Commerce zu besteuern. Plötzlich kommen wir in eine Situation, in der viele Probleme nur auf internationaler Ebene angegangen werden können. Ihr Ansatzpunkt ist die Community, ich denke mehr darüber nach, wie wir diese Probleme international gemeinsam lösen können. Sind Länder wie China – ebenfalls ein alternatives Modell – da nicht im Vorteil?Wie gut wir als Gesellschaft, als Europäische Union oder subnationale Institution damit umgehen, hängt davon ab, wie gut unsere Politik damit Schritt halten kann. Wenn man ein soziales Sicherungssystem für eine Gig Economy aufbauen will, müsste man die Leute öfter fragen, ob sie arbeiten oder nicht. Man bräuchte ein System, das viel schneller reagiert und dafür viel mehr Informationen benötigt. Arbeitgeber alten Stils haben eine physische Präsenz. Man kann ihre Lohnabrechnungen prüfen und sie besteuern. Das ist in der Gig Economy viel schwieriger. Man müsste die Zahlungen überwachen. Das würde mehr Kontrolle bedeuten. Die Frage ist: Kann man mit einer Gig Economy umgehen, ohne die Kontrolle über die Gesellschaft zu verschärfen? Wie ist das mit dem Datenschutz zu vereinbaren, usw. Ich würde gerne noch die Frage aufwerfen, ob wir dank der verstärkten Nutzung regenerativer Energien bald mit kostenloser Energie rechnen können.Die Kosten für Solar- und Windenergie sind in den vergangenen 20 Jahren gesunken. Aber der Aufbau der Kapazitäten erfordert Investitionen. Wer investiert, möchte nicht nur sein Geld zurück, sondern auch eine Rendite erwirtschaften. Zudem fallen Wartungs- und Betriebskosten an, die allerdings bei Solar- und Windanlagen nicht besonders hoch sind. Ich würde also nicht sagen, dass Energie kostenlos sein wird. Aber billigere Energie ist etwas, das kommen könnte. Es wäre die echte vierte industrielle Revolution. Die drei vorangegangenen hatten ja auch mit Energie zu tun.Ja. Zudem haben wir den Wandel zur Niedrigemissionswirtschaft. Das wird in einigen Ländern einer Revolution gleichkommen. Viele osteuropäische Länder sind sehr energieintensiv. In Polen ist die Energieintensität doppelt so hoch wie im EU-Durchschnitt. Polen ist der größte Kohleproduzent. Länder, die in so einem Maß auf CO2-emittierende Branchen angewiesen sind, werden ihre Volkswirtschaften radikal umstrukturieren müssen. Wenn diese Branchen an einem Ort konzentriert sind, wird es dort nicht genug Arbeitsstellen in anderen Branchen geben, in die sie wechseln könnten. Es wird ein weiterer Wandel sein. Die Regierungen werden sorgfältig darüber nachdenken müssen, wie sie damit umgehen wollen. Kostenlose Energie wäre ein Geschenk für Nordafrika und den Nahen Osten, denn die Meerwasserentsalzung würde dadurch bezahlbar.Sie müssen bedenken, dass vorher in all diese Projekte investiert werden muss. In Polen kommen derzeit weniger als 12 % der Energie aus erneuerbaren Quellen. Es wird also lange dauern. Aber der Wandel ist schon unterwegs. Es wird mehr Veränderungen geben und sie werden disruptiver Natur sein. Es kommt darauf an, sie zu bewältigen, ohne dass sich weite Teile der Bevölkerung auf der Strecke gelassen fühlen.Das Interview führte Andreas Hippin.