LEITARTIKEL

EU-Referendum 2.0

Mangelndes Demokratieverständnis kann man der Brexit-Gegnerin Gina Miller nicht vorwerfen. Die Millionärin zog im vergangenen Jahr vor den Obersten Gerichtshof, um dafür zu sorgen, dass Premierministerin Theresa May das EU-Austrittsgesuch nicht ohne...

EU-Referendum 2.0

Mangelndes Demokratieverständnis kann man der Brexit-Gegnerin Gina Miller nicht vorwerfen. Die Millionärin zog im vergangenen Jahr vor den Obersten Gerichtshof, um dafür zu sorgen, dass Premierministerin Theresa May das EU-Austrittsgesuch nicht ohne Abstimmung im Parlament stellen kann. Die von May angesetzten Neuwahlen sind für Miller eine zweite Volksabstimmung über den Brexit. Mit einer eigenen Kampagne will sie proeuropäischen Kandidaten ungeachtet ihrer Parteizugehörigkeit den Rücken stärken.Das Problem von Austrittsgegnern wie Miller besteht darin, dass sich keine der großen Parteien auf die Fahnen geschrieben hat, den Alleingang Großbritanniens zu verhindern. Schließlich will keiner im Wahlkampf als Gegner einer demokratischen Mehrheitsentscheidung dastehen. Die Debatte um den Härtegrad des Brexit ist aus der Not geboren, ihn nicht einfach verdammen zu können. Die Wähler, deren Stimmen man gerne hätte, wollen sich auch nicht bevormunden lassen. Deshalb hört man das zunächst gern verwendete Argument, die Leute hätten ja gar nicht gewusst, worüber sie beim EU-Referendum abstimmen, inzwischen nur noch selten.Labour ist zu diesem Thema tief gespalten. Die allertreueste Opposition Ihrer Majestät würde deshalb lieber ihre Lieblingsthemen wie die Probleme im öffentlichen Gesundheitswesen oder den Mangel an bezahlbarem Wohnraum in den Vordergrund rücken. Gerade in den Hochburgen der Partei wurde mit großer Mehrheit für den Brexit gestimmt. Diese Wähler will auch der linke Parteichef Jeremy Corbyn nicht verlieren, der ohnehin nicht viel für ein Europa der Bonzen und Banker übrig hat. Die schottischen Nationalisten sind mehr mit der Vorbereitung eines weiteren Unabhängigkeitsreferendums beschäftigt. Liberaldemokraten und Grüne, die im Vereinigten Königreich nur wenige Anhänger haben, stellen den Briten indes eine weitere Volksabstimmung zum Thema Brexit in Aussicht.Tatsächlich ist schon die Wahl im Juni die zweite Volksabstimmung. Miller hat da völlig recht. Danach sollte keiner mehr behaupten, er habe von nichts gewusst oder keine Zeit bzw. keine Lust zum Wählen gehabt. Die Frage ist nur, ob sich ihre Anhänger – und sie selbst – dieses Mal mit dem Ergebnis abfinden werden. Denn alles spricht für einen Erdrutschsieg der Tories.May hat den Wahltermin geschickt gewählt, um sich für die Verhandlungen mit Brüssel ein Mandat zu verschaffen. In Großbritannien hielt sich die Überraschung darüber in Grenzen. Schon seit Monaten wurde in der konservativen Presse darüber diskutiert, ob man die Gelegenheit nicht nutzen sollte, dem durch interne Streitereien geschwächten Gegner Labour den Garaus zu bereiten. In Berlin und Brüssel fiel man dagegen aus allen Wolken. Aber da hatte man ja auch nicht damit gerechnet, dass sich May mit solchem Eifer daranmachen würde, das Ergebnis eines Referendums umzusetzen, das ihr eigentlich zuwiderlief.Nach ihrer Wiederwahl, von der man ausgehen darf, hat Brüssel einen Verhandlungspartner, der nicht unter Zeitdruck steht und eine solide Mehrheit hinter sich weiß. Manchem Austrittsgegner wäre eine wankelmütige Regierungschefin mit schwacher Mehrheit sicher lieber gewesen. Ergebnisse lassen sich aber besser in der gegebenen Konstellation erzielen. Zumindest in einer Hinsicht hat sich Mays resolutes Auftreten bereits ausgezahlt: Dem rasanten Aufstieg der UK Independence Party unter Nigel Farage, die aus den Europawahlen 2014 als stärkste Partei hervorging, folgte ein ebenso schneller Niedergang der Rechtspopulisten, nachdem klar war, dass das Land unter May wirklich aus der EU austreten würde. Bei den noch nicht ganz ausgezählten Kommunalwahlen holte die Partei wohl kein einziges Mandat mehr. Vielleicht liegt es ja daran, dass sich May mit ihrer Auslegung konservativer Politik an die einfachen Menschen und gegen die Eliten wandte. Das war mitunter etwas ungelenk, machte sie aber jenseits des kleinen Kreises der Großverdiener glaubwürdiger als das Duo aus David Cameron und George Osborne. May löste das Parlament auf, ohne davor noch eine Liste der mit Orden und Ehrenzeichen zu würdigenden Freunde und Verbündeten vorzulegen. Das brachte zuletzt der Labour-Premier Clement Attlee fertig – im Jahr 1950. Cameron hatte dagegen selbst die Stilberaterin seiner Frau bedacht. Wer Populisten Einhalt gebieten will, muss volksnah sein. Dann klappts auch mit dem Wähler.——–Von Andreas HippinDie Wahl im Juni ist die zweite Volksabstimmung zum Thema Brexit. Danach sollte keiner mehr behaupten, er habe von nichts gewusst.——-