LEITARTIKEL

Europas Schwachstellen

Morgen richtet Europa den Blick auf die Niederlande. Denn die Parlamentswahlen gelten als Seismograph für mögliche politische Beben in der EU. Ein Triumph des Rechtsaußen Geert Wilders könnte den EU-Gegnern in Frankreich und Deutschland zusätzlichen...

Europas Schwachstellen

Morgen richtet Europa den Blick auf die Niederlande. Denn die Parlamentswahlen gelten als Seismograph für mögliche politische Beben in der EU. Ein Triumph des Rechtsaußen Geert Wilders könnte den EU-Gegnern in Frankreich und Deutschland zusätzlichen Schwung verleihen. Allerdings – und unbeschadet aller Vorsicht gegenüber Prognosen, die spätestens seit Brexit-Votum und Trump-Wahl geboten ist: Die Umfragewerte für die Freiheitspartei von Wilders sind in den vergangenen Wochen gesunken. Und die Pole-Position mit zwischenzeitlich deutlichem Abstand aufs Verfolgerfeld hat die Partij voor de Vrijheid ebenfalls eingebüßt.Vieles spricht daher dafür, dass der Rechtspopulist mit dem auffälligen weißgrauen Haarschopf am Wahlabend Stimmenzugewinne, aber kein wirklich triumphales Wahlergebnis feiern kann. Die Bedeutung der Wahlen für die Zukunft der EU dürfte insofern überschaubar bleiben. Weil Wilders kaum Chancen auf Beteiligung an einer Regierungskoalition hat. Weil seine Partei nicht einmal ansatzweise genug Unterstützung hat, um nach Briten-Vorbild ein Referendum über einen EU-Austritt zu erzwingen. Und weil die Freiheitspartei viel besser als zuletzt erwartet abschneiden müsste, um dem Wahlkampf von Marine Le Pen einen echten Schub zu geben.Ist die Diskussion über existenzielle Bedrohungen der EU also nur eine akademische Übung? Nein! Schließlich sind die Wahlen in den Niederlanden ja nur ein Risiko von vielen. Gerade erst hat Polens Regierung vorgeführt, dass sie bereit ist, auf Kosten der EU innenpolitische Schaukämpfe auszutragen. Das possenhafte Spektakel, dass sich just Polen gegen den polnischen EU-Ratspräsidenten Donald Tusk stellte, hat nur deshalb zu keinen Kollateralschäden auf EU-Ebene geführt, weil Warschau glücklicherweise nicht einmal seine Visegrad-Nachbarn auf seine Seite ziehen konnte.Gefahren lauern zudem außerhalb der EU. Denn bei der Positionierung, wie die Union künftig mit Donald Trump und Wladimir Putin umgeht, sind harte Kontroversen innerhalb des Staatenklubs programmiert. Das gilt ebenfalls für das Verhältnis zur Türkei. Gestern bemühte sich zwar die Bundesregierung, den von Recep Tayyip Erdogan direkt angegangenen Niederlanden durch Solidaritätsadressen zur Seite zu springen. Die Tatsache jedoch, dass die EU-Kommission die Wahlkampfauftritte türkischer Regierungsmitglieder als nationale Angelegenheit von sich weggeschoben hat, deutet an, wie schwer es werden dürfte, eine gemeinsame Linie zu finden, um gegenüber Erdogan mit einer starken Stimme auftreten zu können.Die empfindlichste Schwachstelle der EU sind freilich weder der Aufstieg von Europagegnern noch Störfeuer der Regierungen aus Polen und Ungarn – und nicht einmal die Anwürfe aus Washington, Moskau oder Ankara. Sondern ein chronisches Leiden, das die Staatengemeinschaft seit Jahren von innen beschädigt. Nämlich die Kontroverse zwischen Nord und Süd. Ein deutscher Diplomat hat es mit einer Randbemerkung über die dauerhafte Überschreitung von Haushaltsregeln und ständige Überdehnungen von Vorgaben für marode Banken auf den Punkt gebracht: “Früher sind wir davon ausgegangen, Italien kann die Regeln nicht einhalten. Heute wissen wir, Italien will die Regeln nicht einhalten.”In Kernfragen der Finanzpolitik, der Bankenregulierung, der Wettbewerbsfähigkeit und damit der Grundlagen Sozialer Marktwirtschaft wird der Graben zwischen Nordsee-Anrainern und Club Med immer augenscheinlicher. Mit dem Brexit verändert sich nun auch noch die Balance. Für den Norden wird es komplizierter, bei der Gesetzgebung einen vernünftigen Ausgleich zwischen Regelgebundenheit und Flexibilität und zwischen Solidität und Solidarität zu erreichen.Der Elefant im Raum ist dabei Italien. Alle Beteiligten wissen, dass sie Italien – sollte es wirtschaftlich richtig ins Straucheln geraten – selbst mit vereinten Kräften nicht so auffangen können wie seinerzeit Griechenland. Das verleiht dem Land im EU-Rat eine fast erpresserische Macht. Vor diesem Hintergrund wird die EU Entwarnung nicht schon dann geben können, wenn Wilders, Le Pen & Co. ihre Wahlziele verfehlen oder wenn Warschau und Budapest ebenso wie Washington und Ankara ihre Attacken einstellen. Sondern erst dann, wenn Norden und Süden – das heißt vor allem Deutsche und Italiener – endlich einen belastbaren und aufrichtigen Kompromiss finden, wie sie wirtschaftlichen Wohlstand und soziale Gerechtigkeit in der EU sicherstellen wollen.——–Von Detlef FechtnerIst die Diskussion über existenzielle Bedrohungen der EU nur eine akademische Übung? Nein! Denn die Wahlen in den Niederlanden sind ja nur ein Risiko von vielen.——-