EZB hält sich alle Türen offen
Anfang November hat die EZB überraschend ihren Leitzins auf ein Rekordtief gedrückt. Gestern hielt sie vorerst still – betonte aber ihre Handlungsbereitschaft. Der weitere Kurs ist unklar.Von Mark Schrörs, FrankfurtDie Inflation im Euroraum bleibt nach Einschätzung der Europäischen Zentralbank (EZB) mindestens bis ins Jahr 2015 weit unterhalb des Zielwerts von knapp unter 2 %. Laut der gestern vorgestellten Projektion für 2015 geht die EZB davon aus, dass die Verbraucherpreise im Jahresschnitt im Mittel um 1,3 % zulegen. Auf Sicht von zwei Jahren – den Zeitraum nimmt die EZB stets im Dezember in den Blick – sind die 1,3 % die niedrigste Vorhersage, die es je gab.Die Projektion untermauert damit die Anfang November formulierte und gestern erneuerte Erwartung der EZB, “dass der Euroraum über einen längeren Zeitraum hinweg niedrige Inflationsraten verzeichnen könnte”. Die EZB rechtfertigt so ihre überraschende Zinssenkung im November auf das Rekordtief von 0,25 % und die generell lockere Geldpolitik. Der Wert war mit Spannung erwartet worden, weil der geldpolitisch relevante Horizont vielfach mit 18 bis 24 Monaten angesetzt wird.Die Prognose für 2015 spricht dafür, dass die EZB noch länger an den niedrigen Zinsen und den beispiellosen Liquiditätshilfen für Banken festhält. “Das gibt ihr Spielraum für eine anhaltende Nullzinspolitik”, sagte Alexander Krüger, Chefvolkswirt des Bankhauses Lampe. Tatsächlich bestätigte die EZB gestern ihre Forward Guidance, dass die Leitzinsen noch “für längere Zeit” so niedrig bleiben oder gar noch weiter sinken.Die große Frage ist indes, ob die EZB tatsächlich nachlegt – also ihre Zinsen noch einmal senkt oder gar zu drastischeren Mitteln greift wie einen negativen Einlagezins oder den Aufkauf von privaten Wertpapieren und Staatsanleihen. Darauf gab es keine wirkliche Antwort. “Draghi war recht unklar darüber, wie und wann die EZB erneut handeln könnte”, sagte Carsten Brzeski, Chefvolkswirt für die Eurozone der ING Bank.Tatsächlich betonte Draghi gestern mehrfach, dass die EZB über eine “umfangreiche Palette” an Instrumenten verfüge und zum Handeln bereit sei. Er sagte, der EZB-Rat habe kurz über einen negativen Einlagezins diskutiert und darüber, die regelmäßige Abschöpfung der Liquidität aus früheren Staatsanleihekäufen (SMP) zurückzufahren. Mit solchen Aussagen dürfte Draghi aber auch dem Eindruck entgegentreten wollen, die EZB komme langsam an das Ende ihrer Möglichkeiten.Was die EZB veranlassen könnte, erneut zu handeln, blieb gestern aber offen. Draghi betonte, die “Schlüsselfrage” sei dabei, ob weiteres Handeln “gerechtfertigt” sei oder nicht. Auf Nachfragen, was das genau bedeute und ob etwa ein massiver Ankauf von Staatsanleihen allenfalls bei einer ernsten Deflationsgefahr für die Eurozone als Ganzes in Betracht komme, gab er aber keine klare Antwort. Die EZB habe sich bislang nicht überlegt, “welches Instrument wir bei welchem Notfall einsetzen” wollten, sagte Draghi.Die Debatte um und die Forderungen nach weiteren Schritten der EZB hatten sich intensiviert, nachdem die Inflation im Oktober unerwartet auf 0,7 % gefallen war. Das hatte Sorgen geschürt, dass die Eurozone in eine Deflation rutschen könnte, also einen sich selbst verstärkenden Preisrückgang auf breiter Front, der eine Wirtschaft lähmt. Im November war die Rate wieder auf 0,9 % geklettert.Die EZB sieht keine Deflationsgefahr (siehe auch nebenstehenden Gastbeitrag). Draghi gab sich gestern alle Mühe, die Unterschiede zwischen der Eurozone und Japan, das viele Jahre unter Deflation gelitten hat, herauszustreichen. Das könnte signalisieren, dass die Hürde für Maßnahmen wie Negativzinsen und Staatsanleihekäufe recht hoch liegt.Zugleich betonte Draghi aber, die EZB sei sich der Risiken, die eine lange Phase niedriger Inflation für eine Wirtschaft haben könne, “vollkommen bewusst”. Bislang hält die EZB aber an ihrer Erwartung einer allmählichen Wirtschaftserholung fest.Falls die EZB erneut handelt, gilt vielen Beobachtern als wahrscheinlichste Option eine neue langfristige Liquiditätsspritze wie die LTROs zur Jahreswende 2011/2012. Spekuliert wird, sie könne diese an einen Zweck binden, also etwa nur Geld an Banken geben, die Kredite an Firmen vergeben. Draghi sagte, die EZB werde im Fall der Fälle “sicherstellen, dass das Geld in die Wirtschaft fließt”.Draghi verteidigte die jüngste Zinssenkung. Neue Daten und die Entwicklung an den Märkten hätten gezeigt, dass die Entscheidung “absolut gerechtfertigt” gewesen sei. Anfang November hatten einige Ratsmitglieder gegen die Zinssenkung votiert. Das hatte Debatten um eine Spaltung des Rats befeuert. Draghi hatte allerdings gesagt, es sei mehr um den Zeitpunkt als um den Schritt als solchen gegangen.