EZB zieht nicht genug Lehren aus dem vergangenen Jahrzehnt
Ein Jahrzehnt nach der bislang letzten Zinserhöhung hat die Europäische Zentralbank (EZB) die Ergebnisse ihrer Strategieüberprüfung veröffentlicht. Damals, im Sommer 2011, war Portugal das letzte Land, das inmitten der tobenden Schuldenkrise ein Rettungspaket benötigte. Dies hielt EZB-Präsident Jean-Claude Trichet jedoch nicht davon ab, die Zinsen auf 1,5% zu erhöhen, um den vermeintlichen Inflationsdruck zu bekämpfen. Diese Episode wird zu Recht als ein politischer Fehler in Erinnerung bleiben.
In den zehn Jahren seither haben Trichets Nachfolger Mario Draghi und Christine Lagarde viele der Lehren aus dieser Zeit beherzigt. Draghi stellte eine außerordentliche Unterstützung für die Wirtschaft bereit, was in der Schuldenkrise ohne Übertreibung den Fortbestand der Eurozone sicherte. Lagarde wiederum hielt die Anleihenrenditen niedrig und ermöglichte den Regierungen in Europa dadurch, massive fiskalpolitische Hilfspakete zu schnüren, um die Folgen der Covid-19-Krise zu mildern.
Aber die Ergebnisse der von Lagarde geleiteten strategischen Überprüfung der EZB, die jetzt veröffentlicht wurden, bleiben hinter dem zurück, was die EZB tun könnte, um eine nachhaltige Erholung der europäischen Wirtschaft von der Pandemie zu gewährleisten.
Förderung von Klimazielen
Fangen wir bei dem Punkt an, an dem die strategische Überprüfung der EZB am kühnsten war: Sie hat zu Recht vorgeschlagen, die Geldpolitik zu nutzen, um den kohlenstoffarmen Energiewandel zu beschleunigen.
Der Klimawandel ist für die Geldpolitik insofern unmittelbar von Bedeutung, als er zu einer stärkeren Teuerung der Energiepreise und einem geringeren Wirtschaftswachstum führen könnte, was wiederum Einfluss darauf haben würde, wie hoch das angemessene Zinsniveau sein sollte. Das Engagement der EZB in der Klimapolitik kann also im Rahmen des Preisstabilitätsmandats der Zentralbank gerechtfertigt werden. Es ist auch ein wichtiges Anliegen der Finanzstabilität. Physische und Übergangsrisiken werden sich in erheblichem Maße auf Versicherungsverbindlichkeiten, den Marktwert von Unternehmen und die Finanzmärkte auswirken. Daher ist die Beteiligung der EZB im Rahmen ihrer Aufgabe, die Finanzstabilität und die Bankenaufsicht zu gewährleisten, gerechtfertigt. Schließlich hat die EZB als sekundäres Mandat, zur „Verwirklichung der Ziele der Union“ beizutragen. Eines davon ist der Übergang zu einer kohlenstoffarmen Zukunft. Aus all diesen Gründen hat die EZB eine wichtige Rolle im Kampf gegen den Klimawandel zu spielen.
Die EZB hat eine Reihe von Instrumenten in ihrem Arsenal. Zunächst einmal wird sie damit beginnen, langfristige Wirtschaftsprognosen und Bankenstresstests zu veröffentlichen, die ausdrücklich an alternative Klimaszenarien geknüpft sind. Dies sollte auch den letzten Skeptikern klarmachen, dass der Klimawandel für die wirtschaftlichen und finanziellen Aussichten bedeutsam ist.
Noch drastischer sollte sie die Anwendung von Klimafiltern in ihrer eigenen Bilanz vorantreiben. Wenn sie bei ihren Anleihekäufen die Anleihen umweltfreundlicherer Unternehmen bevorzugen würde, könnte sie die Finanzierungskosten für umweltfreundliche Unternehmen senken und die Finanzierungskosten für umweltschädliche Unternehmen erhöhen. Das würde Aktivitäten von „braunen“ zu „grünen“ Unternehmen und Wirtschaftssektoren verlagern. Bei ihren Overnight-Repo-Geschäften mit Geschäftsbanken sollte die EZB größere Sicherheitsabschläge auf die Anleihen von Unternehmen anwenden, die die Umwelt- und Offenlegungsstandards nicht einhalten, um dem größeren Risiko Rechnung zu tragen, das mit braunen Aktivitäten verbunden ist. Und in ihrer Funktion als Aufsicht für Banken sollte sie differenzierte Kapitalanforderungen für die Kreditvergabe der Banken auf der Grundlage von Klimaüberlegungen anwenden. Dieser Schritt – der bei der strategischen Überprüfung nicht gegangen wurde – würde bedeuten, dass Banken Kredite zur Umsetzung grüner Projekte mit weniger Kapital hinterlegen müssten als andere Arten von Krediten. Dies könnte als Katalysator für grüne Investitionen wirken.
Mehr Mut bei Inflationsziel
Im Gegensatz zu ihrer Führungsrolle bei der grünen Geldpolitik hätte die EZB bei der Neudefinition des Inflationsziels mutiger sein sollen. Das neue Ziel „mittelfristig 2%“ ist sicher klarer als das vorherige vage „unter, aber nahe 2%“. Die Unklarheit in dieser Formulierung führte zu Meinungsverschiedenheiten darüber, was die EZB erreichen wollte, und nicht über die dringendere Frage, wie dies am besten zu erreichen sei. Schließlich könnte die Interpretation von „unter, aber nahe 2%“ bei einem EZB-Ratsmitglied bei 1,6% liegen und bei einem anderen bei 1,9%.
Die alte Formulierung unterminierte auch das eigentliche Ziel. Es klang so, als würde die Zentralbank viel lieber eine Inflation von unter 2% haben, als dass sie eine Inflation von über 2% tolerieren würde. Das ist problematisch, da niedrige Inflationserwartungen zu niedriger Inflation führen. Die Festlegung eines Inflationsziels sollte die Erwartungen verankern und nicht die Aussicht auf die Erreichung des Ziels untergraben.
Aber die Anhebung des Ziels auf symmetrische 2% ging nicht weit genug. Die EZB hätte sich ein Beispiel an der US-Notenbank nehmen und ein durchschnittliches Inflationsziel festlegen sollen. Das Niveau der Verbraucherpreise in der Eurozone ist seit 2013 auf das Jahr hochgerechnet nur um 0,9% gestiegen – was einen kumulierten Rückstand von 8,5% gegenüber dem Preisniveau bedeutet, das bei Erreichen des 2-Prozent-Ziels erreicht worden wäre. Bei allem Gerede über niedrige Zinsen, die Sparer auf Kosten von Kreditnehmern bestrafen, bewirkt dieses Verfehlen des Preisniveaus genau das Gegenteil, indem es den realen Wert von Schulden über dem Wert erhält, der erreicht worden wäre, wenn die Zentralbank ihr Ziel erreicht hätte. Die Stabilität, die ein Inflationsziel für die Wirtschaft bietet, wird untergraben, wenn dieses Ziel systematisch verfehlt wird.
Bei einer echten durchschnittlichen Inflationssteuerung würde die EZB eine Periode mit einer Inflation von unter 2% durch eine Periode mit einer Inflation von über 2% ausgleichen und umgekehrt – so dass die Inflation eben im Durchschnitt 2% beträgt. Dies hätte Trichets Zinserhöhungen 2011 verhindern können. Es würde die Politik sicherlich akkommodierend halten, während sich die Wirtschaft von der Pandemie erholt, was zu einer stärkeren Erholung führen würde. Es wäre eine mutigere Option gewesen als das einfache 2-Prozent-Ziel, für das sich die EZB entschieden hat.
Darüber hinaus sollte die EZB einen digitalen Euro ausgeben. Die Verbraucher zahlen bereits seltener mit Bargeld und nutzen häufiger digitale Zahlungsmöglichkeiten. Die Pandemie hat diesen Trend beschleunigt. Dass physisches Bargeld auf dem Rückzug ist, bedeutet für normale Verbraucher jedoch, dass sie den direkten Zugang zur Zentralbankbilanz verlieren. Von einem digitalen Euro – im Wesentlichen Bankkonten bei der EZB – würden die Menschen zweifach profitieren: von der Bequemlichkeit eines modernen Zahlungssystems und von der Sicherheit einer direkten Forderung gegenüber der Zentralbank.
Digitale Zukunft gestalten
Es ist auch wichtig, dass die EZB und nicht irgendwelche Unternehmen oder Gruppen des Privatsektors das in Europa gebräuchliche Tauschmittel ausgibt. Sollte in der Zukunft eine stabilere Kryptowährung zum vorherrschenden digitalen Zahlungssystem avancieren, würde die EZB für dieses Geld weder den Leitzins festlegen noch die Inflation beeinflussen können. Konkurrierende digitale Währungen sind eine existenzielle Gefahr für die Geldpolitik selbst. Ein digitaler Euro würde gewährleisten, dass die EZB die geldpolitische Souveränität bewahren und weiterhin ihren Aufgaben nachkommen könnte.
Vor zehn Jahren haben die unbegründeten Inflationsängste der EZB Öl ins Feuer der Staatsschuldenkrise gegossen. Es hat sich genug im Denken der politischen Entscheidungsträger geändert, dass der Fehler, die Geldpolitik zu früh zu straffen, nicht wiederholt werden sollte. Aber der potenzielle Fehler heute, da die EZB ihre strategische Überprüfung abschließt, besteht darin, dass sie bei der Neudefinition ihrer Rolle für das moderne Zeitalter nicht selbstbewusst genug agiert.