LEITARTIKEL

Frische Leuchtkraft

Wenn Shinzo Abe in einer Woche den Schlüssel zum Premierministeramt, dem Kantei, an seinen Nachfolger - mutmaßlich wird es Yoshihide Suga sein - übergibt, dann geht nicht nur eine Ära zu Ende. Es wird auch Zeit, ein großes Missverständnis zu Abes...

Frische Leuchtkraft

Wenn Shinzo Abe in einer Woche den Schlüssel zum Premierministeramt, dem Kantei, an seinen Nachfolger – mutmaßlich wird es Yoshihide Suga sein – übergibt, dann geht nicht nur eine Ära zu Ende. Es wird auch Zeit, ein großes Missverständnis zu Abes Wirtschaftspolitik aufzuklären. Den Erfolg seiner “Abenomics” bewerten Analysten bisher fast immer anhand von Ist-Soll-Vergleichen mit ihren Zahlenzielen. Daran gemessen fällt die Bilanz der acht Abe-Jahre recht dürftig aus. Die Notenbank erreichte ihr Inflationsziel von 2 % genauso wenig wie die Regierung die angestrebte Wachstumsrate in gleicher Höhe. Doch diese Kritik geht am Kern der Sache vorbei. Das Schlagwort Abenomics diente in erster Linie dem Marketing. Abe wollte Optimismus verbreiten, dass Japan trotz rapide alternder und schrumpfender Bevölkerung eine Zukunft hat. Als der Premier im September 2013 als erster japanischer Regierungschef an der Wall Street eine Rede hielt, rief er den Anlegern “Buy my Abenomics!” zu und begründete dies mit der Aussage “Japan is back!” Diese positive Botschaft wurde sowohl im Ausland als auch zuhause mit großer Aufmerksamkeit registriert. Sein Dauerwerbefeldzug mit dem Slogan Abenomics hat die Leuchtkraft der Marke Japan stärken können.Der Westen hatte Japan bis dahin als siechen Dauerpatienten der Weltwirtschaft wahrgenommen, anfangs mit einer Portion Schadenfreude, weil man das Land in den 1980er Jahren so gefürchtet hatte, später mit wachsendem Desinteresse. Die Tsunami- und Atomkatastrophe im Frühjahr 2011 bekräftigte den Eindruck, dass Nippons Niedergang unausweichlich sei. Dieses düstere Bild hat Abe mit seinem zuversichtlichen Abenomics-Szenario mächtig aufgehellt. In diesem Licht betrachtet fällt die Bilanz seiner Wirtschaftspolitik günstiger aus: Die extrem expansive Geldpolitik schwächte wie geplant den Yen und trieb die Gewinne der Exportunternehmen auf Rekordhöhen. Zusammen mit der verbesserten Corporate Governance wurden japanische Aktien wieder attraktiv. Zugleich brachte die Notenbank die Warner vor einer Schuldenkrise zum Schweigen, indem sie die Hälfte der Staatsanleihen aufkaufte. Pro Kopf gerechnet hat Japan beim Wachstum mit dem Westen Schritt gehalten. Es lag deutlich über der Potenzialrate von 0,2 %. Vier Millionen neue Jobs entstanden. Auf der Weltbühne steht Japan, wegen seiner Abschottung lange angeprangert, heute als Verteidiger des liberalen Multilateralismus dar. Zusammen mit Australien rettete es den Handelsvertrag der Pazifikanrainerstaaten vor dem Aus und senkte in einem historischen Abkommen mit der Europäischen Union die hohen Zollmauern.Noch ein Missverständnis erschwert die Bewertung der Abenomics. Ihre drei “Pfeile” sind eine extrem lockere Geldpolitik, höhere Fiskalausgaben und eine “Wachstumsstrategie”. Deren Gleichsetzung mit “Strukturreformen” weckte jedoch falsche Erwartungen. Zu keinem Zeitpunkt gab es einen kohärenten Plan für eine liberale Öffnung der Wirtschaft, abgesehen vom Strommarkt. Wer in die Regierungspapiere schaut, findet immer nur eine lange Liste von Einzelmaßnahmen, die jede für sich etwas Wachstum erzeugen soll. Deregulierung hatte keine spezielle Priorität. Einige Ökonomen kritisieren, dass Abe den Arbeitsmarkt nicht liberalisiert habe. Doch dafür hätte man den Status der Festangestellten aufweichen und die soziale Sicherheit von Millionen Familien untergraben müssen. Warum sollte eine Regierung auf diese Weise politischen Selbstmord begehen? Stattdessen machte Abe Zeitarbeit und Teilzeitjobs unattraktiver, um die Zweiteilung des Arbeitsmarkts abzumildern. Andere Kritiker beklagen die niedrige Produktivität. Doch die meist kleinen und ineffizienten Unternehmen im riesigen Service-Sektor beschäftigen eben auch sehr viele Menschen. Andere Lösungen für mehr Wachstum – wie eine massenhafte Einwanderung von Arbeitskräften – mögen ökonomisch richtig sein, werden aber von den japanischen Wählern abgelehnt.Japans Dauerpremier verstand sich in erster Linie als oberster Verkäufer von Japan, der seiner Nation neuen Glanz verschaffen wollte. Der Zukunftsglaube, den Abe ausstrahlte, spiegelte sich in den Abenomics als Programm für den wirtschaftlichen Neustart wider. Unterm Strich hat sein kluges Marketing das westliche Zerrbild vom untergehenden Japan korrigiert. Sein wahrscheinlicher Nachfolger Suga dürfte diese Werbekampagne fortsetzen und ihr womöglich mit der Umbenennung in “Suganomics” neuen Spin verleihen.——Von Martin FritzDas Schlagwort Abenomics sandte die Botschaft, dass Japan trotz rapide alternder und schrumpfender Bevölkerung eine Zukunft hat.——