Gleiches Recht für alle
Boris Johnson hat sich mit Alok Sharma, Priti Patel, Rishi Sunak und Suella Braverman gleich vier Politiker ins Kabinett geholt, deren Eltern nach Großbritannien eingewandert sind. Der Premierminister hat sie nicht etwa berufen, um eine Quote an Migranten zu erfüllen. Statt Nischenthemen verantworten sie die Ressorts Inneres, Finanzen und Wirtschaft. Braverman ist die erste Frau seit einem Jahrzehnt im Amt des Generalstaatsanwalts. Viele mögen fragen, warum ausgerechnet Menschen mit Migrationshintergrund einer Verschärfung der Einwanderungsregeln das Wort reden.Es hat viel mit Fairness zu tun. Die neue Zuwanderungspolitik, die Großbritannien ab nächstem Jahr verfolgen will, stellt ein ebenes Spielfeld für alle her. Bislang genossen nur EU-Bürger Freizügigkeit, während es Menschen aus anderen Ländern äußerst schwer gemacht wurde, nach Großbritannien zu übersiedeln. Viele Menschen aus ehemaligen Kolonien des Empires leben bereits im Vereinigten Königreich. Nicht wenige haben für die Konservativen gestimmt, weil ihnen Probleme beim Familiennachzug bereitet werden, während der Zuzug aus den Armutsregionen Südost- und Osteuropas keinerlei Beschränkungen unterliegt. Lohnsubventionen ermöglichen einerseits britischen Arbeitgebern, ihren Mitarbeitern Löhne zu zahlen, von denen man nicht leben kann. Andererseits sorgen sie dafür, dass gering qualifizierte Arbeitnehmer aus der EU in Großbritannien besser leben können als in ihren Herkunftsländern.Man könnte – wie der ehemalige Leib-und-Magen-Philosoph der Labour-Partei, David Goodhart – so weit gehen, von einem neuen Gesellschaftsvertrag zu sprechen. Den alten hatten die Arbeitgeber aufgekündigt, als sie begannen, sich auf dem Kontinent nach qualifizierten Arbeitskräften umzusehen, die billiger zu haben waren als die einheimischen. Sie machten nach Kräften von der Freizügigkeit für Arbeitnehmer Gebrauch. Das wirkte sich mancherorts auf die Löhne aus. Seit 2004 Tür und Tor für die massenhafte Zuwanderung aus der EU geöffnet wurden, gingen die Ausgaben für die Qualifizierung der Belegschaften um ein Fünftel zurück. Nicht nur windige Taxiunternehmer und Spediteure nutzten die schier unbegrenzten Möglichkeiten des Binnenmarkts, auch öffentliche Arbeitgeber wie das staatliche Gesundheitswesen NHS holten lieber Krankenschwestern aus Portugal, als selbst in großem Stil auszubilden. Die allenthalben beklagte niedrige Produktivität in Großbritannien erklärt sich zum Teil daraus, dass es für die Firmen billiger war, Niedriglohnempfänger aus dem Ausland in ihre Belegschaften zu holen, als in teure Automatisierungstechnologien zu investieren.Es ist nicht überraschend, dass vor allem das Hotel- und Gaststättengewerbe, Landwirte und Nahrungsmittelhersteller vor der neuen Zuwanderungspolitik warnen, sind sie doch in hohem Maße von EU-Arbeitskräften abhängig. Vermutlich wird es zunächst Sondergenehmigungen geben müssen, denn in Zeiten der Vollbeschäftigung gibt es nicht genug wirtschaftlich Inaktive, die man dazu motivieren könnte, die durch die neue Politik entstehenden Lücken zu füllen. Geht es darum, hoch qualifizierte Fachkräfte im Ausland anzuheuern, wird keiner den Unternehmen Steine in den Weg legen. Kommen sie nicht aus Frankreich, sondern aus Neuseeland, dürfte das sogar einfacher werden als bisher.Die britische Wirtschaft wird vielleicht etwas weniger wachsen, wenn die Bevölkerung nicht mehr im selben Maße durch Migration wächst. Allerdings bringt die von Boris Johnson vorangetriebene Neuausrichtung der Zuwanderungspolitik drei Jahre nach dem EU-Referendum die Chance, die tiefe Spaltung des Landes zu überwinden, die seit Jahren das gesellschaftliche Klima vergiftet. Und damit ist nicht der Streit zwischen Brexit-Gegnern und Brexit-Befürwortern gemeint, sondern die seit dem Bergarbeiterstreik unübersehbare Kluft zwischen den Armutsregionen im Norden und Westen und der britischen Metropole mit ihrem Umland. Die Verfechter der Gig Economy, in der sich Selbstständige und Freiberufler von Auftrag zu Auftrag hangeln, werden erfahren, ob Paketzusteller und Taxifahrer wirklich so viel Flexibilität wollen. Stehen nicht mehr unbegrenzt Arbeitskräfte zur Verfügung, sind Arbeitgeber gezwungen, auszubilden, höhere Löhne zu zahlen und sich von Modellen wie Arbeit auf Abruf zu verabschieden. Im britischen Unterhaus ist bislang weder eine rechts- noch eine linksextreme Partei vertreten. Durch die neue Politik wird das auch so bleiben.——Von Andreas HippinDie neue Zuwanderungspolitik, die das Vereinigte Königreich ab dem kommenden Jahr verfolgen will, stellt ein ebenes Spielfeld für alle her.——