Großbritanniens Neuverschuldung könnte steigen

Schatzkanzler Sajid Javid soll mit frischen Krediten die Wahlversprechen von Boris Johnson erfüllen

Großbritanniens Neuverschuldung könnte steigen

bet London – Der neue britische Premierminister Boris Johnson hat sein Kabinett mit so vielen Brexit-Hardlinern besetzt, dass die Personalie Sajid Javid wie ein Kontrapunkt wirkt. Der 49-jährige Euroskeptiker Javid stimmte beim Brexit-Referendum im Juni 2016 für den Verbleib Großbritanniens in der EU – schweren Herzens, wie er sagt. Javid ist neuer Schatzkanzler und nicht nur räumlich nah bei Johnson, weil er in 11 Downing Street residiert, direkt neben dem Sitz des Regierungschefs. Javid kommt auch die Aufgabe zu, die Erfüllung von Johnsons Versprechen finanziell zu ermöglichen, darunter möglicherweise den ungeregelten EU-Austritt. Das wird für die Staatsfinanzen und die öffentliche Verschuldung nicht ohne Folgen bleiben.Wie weitgehend diese Folgen sein können, zeigt das Verhalten von Javids Amtsvorgänger Philip Hammond. Der reichte am Mittwoch seinen Rücktritt ein, bevor Johnson ihn entlassen konnte. Hammond erklärte, der neue Premierminister müsse einen Schatzkanzler wählen können, der seine Politik unterstütze. Und er gab der neuen Regierung den Rat, “weise zu wählen”, was sie mit dem Staatshaushalt tue. Für Hammond gehörte zu dieser Weisheit, einen No-Deal strikt abzulehnen, aber auch finanziellen Spielraum zu bewahren, um mit Brexit-Schocks umzugehen.Genau diesen Spielraum wollen Johnson und Javid nutzen – aber in jedem Fall und ungeachtet des Brexit-Verlaufs. Während des Kampfs um die Führung der Konservativen Partei hat Johnson unter anderem Steuersenkungen für Besserverdienende versprochen sowie eine Anhebung des Mindesteinkommens, ab dem Sozialversicherungsbeiträge gezahlt werden müssen. Hinzu kommen höhere Ausgaben für Polizei, Bildung, Gesundheit und Infrastruktur. Den Gesamtumfang schätzt das Analysehaus Capital Economics auf 20 Mrd. Pfund oder 0,9 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Auch Javid, der anfangs am Rennen um den Parteivorsitz teilnahm, warb mit höheren Infrastrukturausgaben. Finanziert werden soll alles durch höhere Neuverschuldung. Hammond band sich an mehrere Fiskalziele, zu denen die Senkung des strukturellen Haushaltsdefizits auf unter 2 % des Bruttoinlandsprodukts ab dem Jahr 2020 gehört.Aufgrund außergewöhnlich hoher Steuereinnahmen wurde das Ziel bereits im Finanzjahr 2018/19 erreicht. Im laufenden Jahr könnte das Defizit auf 1 % fallen. Damit ergibt sich ein Spielraum für eine zusätzliche Neuverschuldung von geschätzt maximal 26 Mrd. Pfund, bis das Fiskalziel verfehlt wird.Höher dürfte die Verschuldung ausfallen, wenn Johnson seine Versprechen erfüllen will und gleichzeitig der No-Deal eintritt, den die Regierung dann mit einem Stimulierungspaket abfedern würde. Javid stellte für den ungeregelten EU-Austritt ein Notbudget mit Steuersenkungen in Aussicht. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Regierung in diesem Fall die Haushaltsregeln ändert. Das ist seit 1997 bereits sechs Mal passiert. Der Schuldenstand erreichte im Kalenderjahr 2016 ein Hoch von knapp 88 % des BIP. Seither sind die Schulden zwar absolut weitergewachsen, sinken relativ gesehen aber langsam, weil die Wirtschaftsleistung schneller zulegt.Im Herbst wird Javid seinen ersten Haushaltsplan präsentieren. Dem Sohn pakistanisch-muslimischer Einwanderer ist eine beeindruckende Karriere gelungen. Sein Vater arbeitete als Busfahrer; Javid schaffte den Aufstieg in die Finanzbranche, unter anderem in eine führende Position im Investment Banking der Deutschen Bank. Nach 18 Jahren im Finanzsektor wechselte er 2010 in die Politik, zog für die Tories in das Parlament ein und wurde 2018 Innenminister unter Premierministerin Theresa May. Verglichen mit dem extrovertierten Johnson wirkt Javid blass und zurückhaltend. Johnson hat von Javid finanzielle Sachkenntnis, aber kaum Widerspruch zu erwarten. Javids Vorgänger Hammond ist zwar auch keine schillernde Persönlichkeit, bezog zuletzt aber öffentlich Stellung gegen Mays Pläne für signifikant höhere Staatsausgaben.