IM INTERVIEW: ROLAND DÖHRN, RWI ESSEN

"Hohe Überschüsse werden verfrühstückt"

Konjunkturexperte zum Frühjahrsgutachten

"Hohe Überschüsse werden verfrühstückt"

– Herr Döhrn, in dem Gemeinschaftsgutachten errechnen die Institute, dass die Bundesregierung mit dem Koalitionsvertrag die Konjunktur durch eine expansive Finanzpolitik stimuliert. Muss deshalb die große Koalition weniger um die Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen besorgt sein?Nein, die Maßnahmen aus dem Koalitionsvertrag befördern zwar das Bruttoinlandsprodukt, aber es ist kein Programm, das neue Schuldenberge auslöst. Allerdings verfrühstückt die große Koalition die hohen Überschüsse im Staatshaushalt. Man sieht am Beispiel des Koalitionsvertrags, dass Geld Politiker sinnlich macht. Wenn sie Geld haben, geben sie es auch aus. – Sind die Maßnahmen der großen Koalition im momentanen Wirtschaftsaufschwung denn überhaupt nötig?Wir haben gut ausgelastete Kapazitäten in Deutschland. Die Wirtschaft wächst stärker als ihr Produktionspotenzial. Aus konjunkturellen Gründen erforderlich ist das Programm der großen Koalition daher nicht. Es kommt wahrscheinlich sogar in einer Phase, in der es den Aufschwung verstärkt, weshalb die eine oder andere Maßnahme eher Preiseffekte als Mengeneffekte auslöst.- Was ist mit der Inflation? Sollte diese angesichts des Aufschwungs nicht stärker anziehen, als es die Prognosen des Gutachtens vorhersagen?Da haben Sie recht. Unsere Modelle unterschätzen die Inflationswirkungen des Koalitionsvertrages möglicherweise etwas, da wir mit gesamtwirtschaftlichen Modellen nicht die Kapazitätsauslastung in einzelnen Sektoren abbilden können. Im Baubereich sind die Kapazitäten jetzt schon hoch ausgelastet, und die Preise steigen mit Raten von 4 % bis 5 %. Man kann sich also vorstellen, was passiert, wenn dort noch mehr investiert wird.- Sie fordern mehr längerfristiges Denken von der Politik. Warum?Wir sehen im Koalitionsvertrag nur wenige Maßnahmen, die das Potenzial der Wirtschaft längerfristig steigern. Bundesfinanzminister Olaf Scholz verdankt die Haushaltsüberschüsse auch günstigen Umständen. Er muss wenig Zinsen auf die Schulden bezahlen, die Konjunktur läuft gut. Doch Koalitionsmaßnahmen wie die höhere Mütterrente belasten den Staatshaushalt langfristig. Die Politik kann schlecht sagen, wenn es im Haushalt knapp wird, kürze ich die Mütterrente wieder. – Sie kritisieren auch, dass die Politik der Stabilisierung des Rentenversicherungssystems zu wenig Beachtung schenkt.Genau, bis zum Jahr 2025 sollen ja der Rentenversicherungsbeitrag und das Rentenniveau stabil gehalten werden. Bis dahin ist das wohl noch zu schaffen. Danach wird sich aber der demografische Wandel sehr schnell vollziehen, weil die geburtenstarken Jahrgänge ins Rentenalter kommen. Dann müssen entweder die Beiträge erhöht oder das Rentenniveau gesenkt werden, oder man muss die Differenz durch Steuern ausgleichen, die letztlich auch die Bürger tragen.- Wie kann Deutschland sein Wachstum stabil halten?Wir reden hier von langfristigem Wachstum. Wir werden uns daran gewöhnen müssen, dass sich der Wachstumstrend ab 2020 eher in die Richtung von 1 % bewegt. Das liegt vor allem daran, dass das Arbeitskräfteangebot geringer wird.- Was sollte die Politik dagegen tun?Eine erste Lösung wäre eine gesteuerte Einwanderung. Die Politik müsste die Zuwanderung in die Bereiche lenken, in denen Bedarf besteht. Wobei es schwierig wird, darüber einen gesellschaftlichen Konsens zu erzielen. Zweitens muss die Kapitalbildung gefördert werden, um die vorhandene Arbeit effizienter einsetzen zu können. Was der Koalitionsvertrag in diesem Zusammenhang nicht anspricht, ist die Unternehmensbesteuerung. Momentan werden Unternehmen eher belastet als entlastet. Nicht nur die steuerliche Seite, auch die Rahmenbedingungen für Investitionen müssen verbessert werden.—-Das Interview führte Julia Wacket.