VON DER IWF-JAHRESTAGUNG - IM GESPRÄCH: GIAN MARIA MILESI-FERRETTI

"Höhere Inflationsziele könnten sinnvoll sein"

Der IWF-Topökonom fordert eine offene Diskussion über die Geldpolitik der Zukunft - Deutschland soll keine Angst vor Überhitzung haben

"Höhere Inflationsziele könnten sinnvoll sein"

Die Geldpolitik war bei der IWF-Jahrestagung in Washington ein zentrales Thema. Was kann sie noch leisten, was nicht? Der IWF sieht aber auch Bedarf für grundsätzliche Debatten – wie über die Inflationsziele.Von Mark Schrörs, zzt. WashingtonDer Internationale Währungsfonds (IWF) sieht stichhaltige Argumente für höhere Inflationsziele der Notenbanken in der Zukunft und plädiert deshalb für eine offene Debatte über dieses Thema. “Höhere Inflationsziele könnten sinnvoll sein”, sagte Gian Maria Milesi-Ferretti, stellvertretender Leiter der Forschungsabteilung des IWF, der Börsen-Zeitung. Der sogenannte neutrale Realzins sei deutlich gesunken, so dass die Gefahr zunehme, dass Zentralbanken bei unveränderten Zielen künftig schneller die aus ihrer Sicht problematische Nullzinsgrenze erreichten, sagte der Ökonom. “Nicht dogmatisch sein”Zentralbanker, Volkswirte und Forscher sollten nun intensiv über dieses Thema nachdenken, und das ganz offen, sagte Milesi-Ferretti in dem Gespräch am Rande der IWF-Jahrestagung in der US-Kapitale. “Wir müssen bereit sein, unsere Ansichten einer sich ändernden Welt anzupassen, anstatt übermäßig dogmatisch zu sein”, fügte er hinzu.Mitte August hatte US-Notenbanker John Williams mit einem Beitrag weltweit für Aufsehen gesorgt, in dem er wichtige Teile des geldpolitischen Konsenses in Frage stellte und ein Umdenken forderte (vgl. BZ vom 18. August). Konkret redet er einer Anhebung der Inflationsziele oder einer Abkehr von der Inflationssteuerung das Wort. Viele Notenbanker sehen solche Vorstöße aber weiter kritisch – nicht zuletzt auch jene in der Europäischen Zentralbank (EZB).Im Jahr 2010 hatte der damalige IWF-Chefvolkswirt Olivier Blanchard vorgeschlagen, die Zentralbanken sollten ihre Inflationsziele von den verbreiteten 2 % auf 4 % anheben. Unisono lehnten die führenden Währungshüter rund um den Globus den Vorstoß damals aber ab und attackierten Blanchard und den IWF harsch. In der Folgezeit äußerte sich der Fonds sehr viel vorsichtiger.IWF-Topökonom Milesi-Ferretti sieht nun aber die Zeit reif für eine neuerliche Debatte. Er sagte, dass Williams in seinem Papier sehr wichtige Fragen aufwerfe und seine Überlegungen sehr viel Sinn ergäben. Wenn der neutrale Zins nun sehr viel niedriger liege und das Trendwachstum schwächer sei, sei die Gefahr, an die Nullzinsgrenze zu stoßen, “sehr viel größer”. An dieser Grenze seien Zentralbanken aber womöglich nicht in der Lage, die Wirtschaft falls nötig noch ausreichend zu stimulieren. “Es macht Sinn, dieses Risiko zu minimieren”, sagte Milesi-Ferretti. In dem Sinne könnten höhere Inflationsziele helfen.Williams’ Analyse basiert auf der Einschätzung, dass der natürliche Realzins, der seit Jahrzehnten weltweit sinke, auch in Zukunft niedrig sein werde. Dieser Zinssatz wird vielfach definiert als der reale kurzfristige Zins, der mit einem potenzialgerechten Produktionswachstum und stabiler Inflation vereinbar ist. In den USA liege der Satz heute nur knapp über 0 % und im Euroraum gar unter null, so Williams. Während vor der Krise in den USA kurzfristige Zinsen von 4 % bis 4,5 % normal gewesen seien, sieht Williams die “neue Normalität” eher bei 3 % bis 3,5 %. Das aber bedeute, dass die Geldpolitik bei einem Abschwung weniger Zinssenkungsspielraum habe.Der neutrale Zins kann nicht gemessen oder berechnet werden, sondern wird geschätzt. Schätzungen wie jene von Williams sind aber unumstritten, und es gibt durchaus kontroverse Ansichten über Ursachen und Konsequenzen des Rückgangs dieses Zinses.Milesi-Ferretti allerdings teilt die Einschätzung, dass der neutrale Realzins viel niedriger sei als bislang vermutet. Und er zieht daraus noch einen weiteren Schluss: Der Grad an geldpolitischer Stimulierung im System sei derzeit “sehr viel geringer als gedacht”. Auch vor dem Hintergrund plädiert der Fonds für eine anhaltend lockere Geldpolitik und falls nötig gar weitere Maßnahmen.Milesi-Ferretti verwies darauf, dass die Inflation vielerorts unterhalb der Ziele liege, die Inflationserwartungen gesunken seien und speziell in den Industrieländern die Wirtschaft unterausgelastet sei. “Die Zentralbanken können nicht die Hände in den Schoß legen. Sie mussten und sie müssen handeln”, sagte er. Besonders besorgt zeigte er sich über den Rückgang der mittel- und langfristigen Inflationserwartungen und warnte: “Die Zentralbanken können ihre Glaubwürdigkeit verlieren, wenn ihr Ziel 2 % ist und sie es permanent unterschreiten.”Er widersprach in dem Zusammenhang auch der Zentralbank der Zentralbanken BIZ. Die Vorteile der ultralockeren Politik seien nach wie vor deutlich größer als die Kosten und Risiken. “Die Zentralbanken nutzen weiterhin mehr, als sie schaden.” BIZ-Chefvolkswirt Hyun Song Shin hatte jüngst im Interview der Börsen-Zeitung gewarnt, womöglich sei der Punkt bereits erreicht, an dem die Geldpolitik mehr schade als nutze (vgl. BZ vom 2. September).Milesi-Ferretti räumte aber ein, dass die Zentralbanken nicht mehr viel Spielraum hätten. Bei weiteren Senkungen negativer Zinsen sei “irgendwann der Punkt erreicht, an dem die potenziellen Kosten die Vorteile wahrscheinlich überwiegen”. Wertpapierkäufe könnten jedoch weiter für Stimulierung sorgen. Klar sei aber auch, das die Geldpolitik generell Grenzen habe. Umso dringlicher sei es, dass andere Politikbereiche mehr Verantwortung übernähmen.Milesi-Ferretti sprach sich für eine stärkere Koordination von Geld- und Fiskalpolitik aus. “Wo möglich sollten Geld- und Fiskalpolitik jetzt im Einklang handeln”, sagte er. Beide hätten das gleiche Ziel: das Wachstum anzukurbeln und die Inflation zu erhöhen. Zudem gebe es klare Synergien. “Eine expansive Fiskalpolitik ist beispielsweise effektiver, wenn sie von einer expansiven Geldpolitik unterstützt wird.”Eine zu enge Zusammenarbeit weckt aber bei vielen Zentralbankern Sorgen um ihre Unabhängigkeit. Milesi-Ferretti äußerte sich auch skeptisch dazu, die Trennung von Geld- und Fiskalpolitik aufzugeben – etwa durch den Einsatz von “Helikoptergeld”. Zugleich sagte er aber: “Wenn die Regierungsausgaben steigen, während die Zinsen sehr niedrig sind und die Zentralbanken Staatsanleihen kaufen, leben wir de facto in einer Welt, die nicht weit entfernt ist von einer Welt mit expliziter monetärer Finanzierung.”Mit Blick auf die deutsche Wirtschaft warnte Milesi-Ferretti vor Selbstzufriedenheit und Stillstand: “Deutschland geht es im Moment gut. Aber es gibt eindeutig Spielraum für Reformen, um die Dinge besser zu machen.” Zudem könne Deutschland auf der fiskalischen Seite mehr tun. “Das wäre gut für Deutschland und für Europa”, so der Ökonom. Er untermauerte damit Forderungen an Deutschland, die bei der IWF-Jahrestagung zu Misstönen zwischen Berlin und Washington geführt hatten.Milesi-Ferretti räumte ein, dass die deutsche Wirtschaft nahezu voll ausgelastet sei. Das Ziel müsse daher sein, das Potenzialwachstum zu erhöhen – durch fiskalische Maßnahmen wie Investitionen in Infrastruktur und durch Strukturreformen. “Aber auf kurze Sicht wäre es keine Katastrophe, wenn die Produktionslücke marginal positiv würde. Das würde nicht gleich ein Überhitzen der Wirtschaft bedeuten.” Nicht zuletzt mit einer solchen Gefahr weist die deutsche Seite solche Forderungen stets zurück. Ein wenig mehr Lohnwachstum und kleine Einbußen bei der Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland würden helfen, den enormen Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands zu reduzieren und die Ungleichgewichte im Euroraum abzubauen, so Milesi-Ferretti. Mehr Inflation in DeutschlandEr erinnerte daran, dass Deutschland Teil einer Währungsunion sei und die Inflation im Euroraum das Ziel der Europäischen Zentralbank (EZB) von knapp 2 % unterschreite. “Eine Inflationsrate von mehr als 2 % in Deutschland würde der EZB ganz klar helfen, eine Inflationsrate von 2 % zu erreichen”, sagte er. Er zeigte sich überzeugt, dass, wenn Deutschland aktuell eine eigene Währung hätte, deren Wechselkurs sehr viel höher wäre, als es derzeit beim Euro der Fall ist. “Deutschland und seine Wirtschaft profitieren sehr von dem schwachen Euro.”Auf die Frage, ob die europäische Währungsunion ohne Fiskalunion auf Dauer nicht überlebensfähig ist, betonte Milesi-Ferretti, dass Schocks die einzelnen Euro-Länder mitunter sehr unterschiedlich träfen. “Es besteht eindeutig Bedarf an mehr Integration in Europa und im Euroraum und eindeutig Bedarf an mehr Risikoteilung – so wie wir sie in den USA haben.” Die Bereitschaft zu mehr Integration in Europa ist derzeit allerdings gering, und nicht zuletzt Deutschland lehnt speziell mehr Risikoteilung vehement ab.