Global Wage Report

ILO: Lohnspreizung wird zum gesellschaftlichen Sprengsatz

Nach Jahren der Schrumpfung sind die Reallöhne zuletzt wieder gestiegen, haben den Inflationsschub aber noch nicht wettmachen können. Nachholbedarf in den Industrieländern.

ILO: Lohnspreizung wird zum gesellschaftlichen Sprengsatz

ILO: Lohnspreizung wird zum gesellschaftlichen Sprengsatz

Ungleichheit in jüngster Zeit etwas zurückgegangen – Reallöhne legen wieder zu

Arbeitseinkommen sind auf gutem Weg, den Inflationsschub auszugleichen. Doch die großen Unterschiede zwischen Hoch- und Niedriglohnempfängern innerhalb von Staaten sind ein politisches Problem. Die UN-Organisation fordert die Staaten zum Handeln auf.

lz Frankfurt

Die Reallöhne erholen sich weltweit. Nach Jahren des Kaufkraftverlustes haben sie im vergangenen Jahr erstmals wieder zugelegt, und zwar um 1,8%. Sie konnten auf diese Weise einen Teil des vorherigen Inflationsschubs kompensieren. Für 2024 sagt die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) in ihrem Global Wage Report sogar ein Plus von 2,7% voraus. Das wäre der höchste Anstieg seit mehr als 15 Jahren. Die ILO spricht von einer „bemerkenswerten Erholung“. Noch 2022 schrumpfte die Kaufkraft um 0,9%.

Schwellenländer holen auf

„Die Rückkehr zu einem positiven Reallohnwachstum ist eine willkommene Entwicklung“, sagt ILO-Generaldirektor Gilbert F. Houngbo. „Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass Millionen von Arbeitnehmern weiterhin unter der Krise der Lebenshaltungskosten leiden, die ihren Lebensstandard untergraben hat, und dass die Lohnunterschiede zwischen und innerhalb von Ländern nach wie vor unannehmbar hoch sind.“

Das Lohnwachstum war global jedoch recht unterschiedlich verteilt: In den Schwellenländer wurde ein größerer Nachholimpuls festgestellt als in den Industrieländern. Während die fortgeschrittenen G20-Volkswirtschaften 2022 und 2023 einen Rückgang der Reallöhne verzeichneten (2,8% / 0,5%), blieb das Reallohnwachstum in den Schwellenländern in beiden Jahren positiv (1,8% / 6,0%). Insgesamt legten die Löhne in Asien und dem Pazifikraum, in Zentral- und Westasien sowie Osteuropa schneller zu als in anderen Teilen der Welt.

Nachholbedarf in den Industrieländern

Etwas eingeebnet hat sich auch der Abstand zwischen Hoch- und Niedriglöhnen. Seit Anfang der 2000er Jahre ist die Lohnungleichheit durchschnittlich um jährlich 0,5 bis 1,7% gesunken. Die deutlichsten Rückgänge gab es in Ländern mit niedrigem Einkommen, wo der durchschnittliche jährliche Rückgang in den letzten zwei Jahrzehnten zwischen 3,2 und 9,6 Prozent lag.

Gerechtere Steuersysteme

In wohlhabenderen Ländern nimmt die Lohnungleichheit langsamer ab. In Ländern mit mittlerem Einkommen schrumpft sie jährlich nur zwischen 0,3 und 1,3%, in Ländern mit hohem Einkommen um zwischen 0,3 und 0,7%.

Trotz der jüngsten Fortschritte bleibt die hohe Lohnungleichheit nach Ansicht der ILO ein drängendes Problem, worauf die Politik dem gesellschaftlichen Frieden willen und mit Blick auf die Fairness im Wirtschaftssystem reagieren müsste. 2023 verdienten die weltweit am schlechtesten bezahlten 10% der Arbeitnehmer nur 0,5% der globalen Lohnsumme, während die bestbezahlten 10% fast 38% dieser Lohnsumme bekommen.

„Starke Lohnpolitik nötig“

„Nationale Strategien zur Verringerung von Ungleichheiten erfordern eine Stärkung der Lohnpolitik und der Institutionen“, sagt Giulia De Lazzari, Ökonomin bei der IAO und eine der Hauptautorinnen des Berichts. „Ebenso wichtig ist es jedoch, Maßnahmen zu entwickeln, die die Produktivität, menschenwürdige Arbeit und die Formalisierung der informellen Wirtschaft fördern.“

Die Autoren fordern als Gegengewicht eine „starke Lohnpolitik“ und „strukturelle Unterstützung für ein gerechtes Wachstum“. Konkret verlangen sie von der Politik die Etablierung von Mindestlohnsystemen und echter Tarifverhandlungen, die gesetzliche Gleichstellung der Geschlechter und die Offenlegung von Statistiken. Außerdem sei eine die Lohnungleichheit berücksichtigende ausgleichende Sozial- und Steuerpolitik nötig.

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