IM INTERVIEW: RENE MATTEOTTI

"Immer ein Fragezeichen hinter Lizenzboxen gesetzt"

Schweizer Steuerrechtsprofessor René Matteotti begleitet die Reformbestrebungen der Eidgenossen in der Unternehmensbesteuerung kritisch

"Immer ein Fragezeichen hinter Lizenzboxen gesetzt"

Zu dem Großprojekt Unternehmenssteuerreform der Schweiz äußert sich der Züricher Steuerrechtsexperte René Matteotti im Interview der Börsen-Zeitung. Darin geht er auch kritisch auf die Versuche vieler Staaten ein, mittels Steuervergünstigungen, etwa in Form von sogenannten Patentboxen, Wettbewerbsvorteile zu erlangen.- Herr Matteotti, die Schweiz nimmt mit der dritten Unternehmenssteuerreform ein gigantisches Projekt in Angriff – oder täuscht der Eindruck?Sie täuschen sich nicht. Die Schweiz plant eine der bedeutendsten Steuerreformen in der Geschichte.- Wie groß ist das Risiko, dass das Projekt scheitert?Es ist vorhanden. Die Gesetzesvorlage, welche der Bundesrat, die Regierung, vor zwei Wochen in die Anhörung geschickt hat, enthält verschiedene Elemente, die politisch von links wie auch von rechts unter Beschuss geraten könnten. Nehmen Sie als Beispiel die Kapitalgewinnsteuer. Diese Steuer ist ein lang gehegter Wunsch der Sozialdemokraten. Er stößt in der Wirtschaft und in den bürgerlichen Parteien auf erbitterten Widerstand. Ein Dorn im Auge ist den Sozialdemokraten auch die Vorstellung, dass die Unternehmenssteuerreform den Kantonen mindestens in der Tendenz helfen könnte, die Unternehmenssteuern zu senken. Die bürgerlichen Parteien mit ihrem Widerstand gegen die Kapitalgewinnsteuer und die Sozialdemokraten mit ihren Vorbehalten gegenüber der Stoßrichtung der Reform könnten im Parlament zu unheiligen Allianzen führen und die Reform zu Fall bringen.- Wie lange braucht die Schweiz für diese Reform, und wie viel Zeit hat sie?Der interne Zeitplan ist klar. Der Bundesrat wird die Botschaft für den Gesetzesvorschlag vermutlich im Sommer 2015 veröffentlichen, so dass dann vermutlich das neu zusammengesetzte Parlament von 2015 an darüber debattieren kann. Ich nehme an, dass der Gesetzgebungsprozess bis 2017 abgeschlossen werden könnte. Die Organisation der Industriestaaten OECD will ihrerseits rasch Resultate sehen, und von daher müsste die Reform eigentlich im 2018 in Kraft gesetzt werden.- Und wenn das nicht reicht?Dann wird die Schweiz wohl wieder mit der Drohung von Sanktionen und Retorsionsmaßnahmen konfrontiert werden. Die Rechtssicherheit wäre sicherlich bedroht.- In der OECD sind schädliche Steuerpraktiken schon seit mehr als 20 Jahren ein Thema. Warum reagiert die Schweiz erst jetzt?Bis 2005 hatten die kantonalen Steuerregime in der Schweiz quasi das Gütesiegel der Amerikaner. Diese hatten sich innerhalb der OECD stets gegen internationale Steuermaßnahmen auf Stufe der Einzelstaaten, also Bundesstaaten oder Kantone, ausgesprochen. Erst 2007 entschied dann die EU-Kommission, dass die kantonalen Steuerprivilegien in der Schweiz das Freihandelsabkommen aus dem Jahr 1972 verletzten. Da kamen die ersten Sanktionsdrohungen auf, und der Reformbedarf wurde virulent für die Schweiz. Bis dahin hatte die Schweiz eben versucht, ihre Interessen mit Allianzen zu verteidigen.- War das rückblickend ein Fehler?Nicht unbedingt. Die Strategie ging ja lange Zeit auch auf. Doch es kam dann eine Zeit, in der man versuchte, an den Regimes zu schrauben. Ein solches Beispiel war die Einführung einer Mindestquote. Das war nach meiner Auffassung etwas Schlaumeierei. Bemerkenswert ist, dass die EU-Kommission darauf sogar eingegangen wäre. Doch Italien und Holland haben dann bekanntlich ihr Veto eingelegt. Zeitgleich wurde in der OECD auch die Diskussion um das Projekt Base Erosion and Profit Shifting angestoßen. Der Spielraum für die Schweiz wurde dadurch immer enger.- Für Angel Gurría, den Generalsekretär der OECD, stellen auch Lizenz- oder Patentboxen eine schädliche Steuerpraxis dar, wie er zuletzt beim Finanzministertreffen der G 20-Länder in Australien erklärte. Hat er recht?Aus einer streng steuersystematischen Optik hat er sicher recht. Differenzierte Steuersätze sind verfassungsrechtlich eigentlich nicht haltbar, es sei denn, sie werden vorgenommen, um die rechtsgleiche Besteuerung zu stärken. Solche Beispiele gibt es zum Beispiel im Bereich der Altersvorsorge oder im Bereich der Dividendenbesteuerung, die zu einer Ungleichbehandlung von Aktiengesellschaften und Personengesellschaften führen kann. Aber eine Lizenzbox fällt sicher nicht unter diese Kriterien. Die einzige Rechtfertigung, die es dafür gibt, ist die Förderung von Forschung und Entwicklung. Das ist sogar ein verfassungsrechtlich verankertes Ziel. Förderungsmaßnahmen auf diesem Gebiet sind für einen ressourcenarmen Staat wie die Schweiz wohl nicht grundsätzlich verfehlt.- Aber?Interessant ist hier, dass die Schweiz nach offiziellen Statistiken zu den innovativsten Ländern der Welt gehört. Aus verfassungsrechtlicher Sicht könnte man argumentieren, dass der Staat nur dann intervenieren sollte, wenn ein Marktversagen vorliegt. Aber das ist offensichtlich nicht der Fall. Man könnte also aus einer rein schweizerischen Perspektive sagen, dass für Lizenz- oder Patentboxen gar keine Notwendigkeit besteht.- Geht es also bloß um Steuerwettbewerb?Es ist unbestritten, dass international ein intensiver Wettbewerb um mobile Faktoren, also um mobiles Steuersubstrat geografisch nicht gebundener Unternehmen im Gang ist. Vor diesem Hintergrund halte ich die Kritik von Angel Gurría für nicht völlig daneben. Aber die OECD versucht ja nun, dieses Boxen-System in eine Richtung zu lenken, die dem Ziel der Innovationsförderung wirklich dient. Nach den Vorstellungen der OECD sollen Erträge aus Patenten nur so weit steuerlich begünstigt werden dürfen, wenn die dem Patent zugrunde liegende Forschung tatsächlich im eigenen Land erfolgt ist.- Das entspricht aber nicht dem Schweizer Modell.Nein, bei der Lizenzbox, wie sie der Bundesrat in die Anhörung gegeben hat, besteht heute das Risiko, dass sie international nicht auf Akzeptanz stößt.- Die Basler Pharmaindustrie verwaltet viele Patente, die nicht in Basel entstanden sind. Wäre die Patentbox nach den Vorstellungen der OECD ein Problem für Basel und die Schweiz?Die Antwort ist abhängig von der Perspektive, die man hat. Natürlich wäre ein solches Modell ein Problem für Basel, wenn man sich auf den Standpunkt stellt, dass Basel auch für Forschung im Ausland ein steuerlich attraktiver Standort sein muss. Man kann aber auch argumentieren, dass eine solche Patentbox positive Konsequenzen für den Schweizer Standort haben kann, wenn es in einem Konzern um die Frage geht, wo Forschung betrieben werden soll. Die Basler Pharmaindustrie hätte dabei wohl gute Karten, schließlich verfügt die Branche hierzulande ja bereits jetzt über sehr bedeutende Kapazitäten, die ausgebaut werden könnten.- Die Schweiz setzt fest darauf, dass die Briten an ihrem bestehenden Lizenzbox-System festhalten können und wollen. Ist es klug, sich in solche Abhängigkeiten zu begeben?Ich habe persönlich schon immer ein Fragezeichen hinter Lizenzboxen gesetzt. Nach meiner Überzeugung sollte die Schweiz strategisch daher langfristig auf eine generelle Senkung der Unternehmenssteuern hinarbeiten. Allfällige Steuerausfälle müssten dann allerdings durch eine Erhöhung der indirekten Steuern, zum Beispiel der Mehrwertsteuer, oder durch höhere Steuern auf nicht erneuerbare Energie gegenfinanziert werden. Dieses heiße Eisen will man heute jedoch nicht anfassen.- Die vorliegende Unternehmenssteuerreform wäre dann also so etwas wie der alte Wein in neuen Schläuchen?Es besteht in der Tat etwas die Tendenz, möglichst viel vom bisherigen System in das neue System hinüberzuretten. Das ist politisch nachvollziehbar, macht uns aber von den weiteren internationalen Entwicklungen mehr abhängig.- Sollte der große Erfolg des britischen Systems nicht eine Warnung sein für die Schweiz? Auch das Bankgeheimnis fiel erst, als es zu erfolgreich wurde.Ihre Beobachtung ist gerechtfertigt, und bedenken Sie: Die EU-Kommission hat ja bereits den Antrag gestellt, die englische Box als schädliche Steuerpraxis aufzulisten. Der schweizerische Bundesrat lehnt sich in seiner Anhörungsvorlage stark an die Patentbox an und wird wohl – wie die Briten – noch Modifikationen vornehmen müssen. Nicht ausgeschlossen ist, dass dereinst der Europäische Gerichtshof die Boxen generell für unzulässig erklärt.- Auch in der OECD gibt es keinen Konsens darüber, wie die Substanz eines Patentes und seiner steuerlich zu privilegierenden Erträge zu definieren sind. Spricht das nicht doch für die Briten, die offenbar nicht allein im Sonderzug sitzen?Der Konsens in der OECD fehlt derzeit tatsächlich, aber das muss für die Briten oder auch für die Schweizer nicht zwingend heißen, dass einfach nichts geschieht. Ein fehlender Konsens wäre ein Freipass für andere Länder, unilateral Abwehrmaßnahmen gegen Länder mit besonderen Boxen-Systemen zu treffen und Unternehmen, welche von solchen Boxen Gebrauch machen, zu schikanieren.- Müsste die Schweiz also selber ein großes Interesse an einem Konsens in der OECD haben?Ja, und das, obwohl ein solcher Konsens vermutlich auf ein ziemlich eng definiertes Patentboxen-System hinauslaufen würde. Die meisten OECD-Länder, darunter auch Deutschland, favorisieren den sogenannten Nexus-Ansatz. Unter diesem Modell sollen nur jene Erträge aus Patenten steuerlich begünstigt werden dürfen, für die ein Unternehmen selber geforscht hat. Das heißt, dass die Firmen die Forschung auch nicht mehr auf eigene Konzerngesellschaften auslagern könnten, wenn sie das Steuerprivileg in Anspruch nehmen wollen.- Die Schweiz verfolgt international seit Jahren eine ausgesprochen defensive Steuerstrategie. Hätte das Land auch andere Optionen?Unter den aktuellen politischen Realitäten wohl eher nicht. Theoretisch aber sehr wohl. Die Schweiz könnte im eigenen Land auf einen generell sehr niedrigen Gewinnsteuersatz hinarbeiten und gleichzeitig, zum Beispiel in einer Allianz mit Deutschland, international in die Offensive gegen Lizenzboxen und andere besondere Steuerregime gehen. Die Voraussetzungen für eine solche strategische Kehrtwende wären allemal vorhanden. Die Schuldenquote der Schweiz ist vergleichsweise sehr gering, was ein großer Standortvorteil ist. Sie eröffnet der Schweiz viel Gestaltungsspielraum. Eine generell niedrigere Unternehmensbesteuerung wäre ein starkes Signal an alle Unternehmen im Land, die ein deutlich verbessertes Investitionsumfeld vorfinden würden, und es würde es der Schweiz ermöglichen, auch den aufstrebenden Steueroasen in Singapur, Dubai oder Hongkong viel offensiver gegenüberzutreten und ihre einheimische Wirtschaft im internationalen Wettbewerb noch besser zu positionieren. Ich bin überzeugt, dass eine solche Strategie langfristig das wohlfahrtsökonomisch beste Ergebnis für die Schweiz produzieren würde.- Wie nachhaltig sind eigentlich die niedrigen Unternehmenssteuersätze in Ländern wie Irland, die eine große Wirtschaftskrise und ein enormes Verschuldungsproblem bewältigen müssen?In Stein gemeißelt sind die Steuersätze natürlich nirgends. Aber Irland hat doch ein sehr starkes Signal ausgesandt, indem das Land trotz der Krise an der bisherigen Politik festgehalten hat.- Wir beobachten seit einiger Zeit eine Welle von steuerlich motivierten Übernahmen, mit denen große US-Firmen ihren Sitz von den USA in steuerlich attraktivere Standorte in Irland oder anderswo verschieben. Wie muss man diese Transaktionen einordnen?Amerika hat mithin die weltweit höchsten Unternehmenssteuersätze von bis zu 40 %. Es gibt ein steuerökonomisches Prinzip, nach dem eine als zu hoch empfundene Steuerbelastung die Steuersubjekte zum Ausweichen motiviert. Das kann man bei diesen Tax-Inversion-Deals nun sehr gut beobachten. Auf diese Weise kommen die Amerikaner insgesamt zu einer viel niedrigeren Steuerquote. Ein Stück weit sind diese Ausweichmanöver politisch gewollt, auch wenn die Demokraten nun öffentlich dagegen wettern. Immerhin gibt es das Phänomen schon seit sehr langer Zeit, und ich bezweifle, dass die Amerikaner die Lücke wirklich schließen wollen.- Aber auch den Amerikanern geht auf diese Weise doch Steuersubstrat verloren.Ja, aber gleichzeitig sieht man in Amerika doch auch, dass viele große US-Konzerne mit Hilfe solcher Steueroptimierungspläne international sehr erfolgreich operieren. Die Firmen genießen einen enormen Wettbewerbsvorteil im internationalen Geschäft. Nehmen Sie doch die Firma Starbucks. Wenn Sie den Steuersatz dieser Firma mit jenem eines lokalen Kaffeehauses vergleichen würden, dann würde sich wahrscheinlich sehr schnell zeigen, welche enormen Wettbewerbsverzerrungen hier stattfinden.- Müsste man solche impliziten staatlichen Beihilfen bei der WTO nicht einklagen?Es wäre zumindest einen Versuch wert. Aber die internationale Gemeinschaft hat es bis heute nicht geschafft, die Amerikaner mit ihren eigenen Steuerpraktiken ernsthaft herauszufordern.- Wie groß ist eigentlich das Problem verdeckter Praktiken zur steuerlichen Wirtschafts- und Standortförderung?Das Problem existiert tatsächlich. Nehmen Sie Luxemburg. Das Land verweigert die Herausgabe von Steuer-Rulings, also grundsätzlich verbindliche Auskünfte an (potenzielle) Steuerpflichtige zu den Steuerfolgen eines in Aussicht gestellten konkreten Sachverhalts, die unter dem Aspekt des Beihilfeverbotes unschön aussehen könnten. In Luxemburg, aber auch in anderen Staaten geschieht viel auf informellen Kanälen über nichtöffentliche Steuer-Rulings, in denen die gesetzlichen Grundlagen so ausgelegt werden, dass sie eine Standortförderung erlauben.- Muss man daraus erkennen, dass die Schweiz in diesem Spiel schlechtere Karten hat als große Länder oder kleine Länder in einem großen Verbund?Das ist überspitzt formuliert, aber nicht ganz falsch. Bei den USA ist klar, dass dort die wirtschaftliche und politische Macht bei der internationalen Durchsetzung der eigenen Steuerpolitik hilfreich ist. Für Luxemburg kann die EU-Mitgliedschaft ebenfalls ein Vorteil sein, weil der Europäische Gerichtshof in Bezug auf Abwehrmaßnahmen Verhältnismäßigkeit verlangt und sogar Schranken gesetzt hat. Diesen Schutz kann die Schweiz als Nicht-EU-Mitglied nicht in Anspruch nehmen.—-Das Interview führte Daniel Zulauf.