IM BLICKFELD

In Russland rollt die zweite große Pleitewelle

Von Eduard Steiner, Moskau Börsen-Zeitung, 25.11.2017 In Russland sterben derzeit Firmen wie seit vielen Jahren nicht mehr. Sind das nur die Spätfolgen der Rezession? Oder schwächelt die Wirtschaft doch mehr, als dem Kreml lieb ist? Offenbar nicht...

In Russland rollt die zweite große Pleitewelle

Von Eduard Steiner, MoskauIn Russland sterben derzeit Firmen wie seit vielen Jahren nicht mehr. Sind das nur die Spätfolgen der Rezession? Oder schwächelt die Wirtschaft doch mehr, als dem Kreml lieb ist? Offenbar nicht zufällig wurden die größten Unternehmer dazu aufgerufen, vor der Präsidentenwahl im März tunlichst positive Nachrichten für die Öffentlichkeit zu produzieren.Die Nachricht passt so gar nicht in das Bild, das Staatspräsident Wladimir Putin vom Fortkommen der Wirtschaft in seinem Land zeichnen will. 3 227 Firmen seien im dritten Quartal in die Insolvenz geschlittert, berichtete dieser Tage das Moskauer Zentrum für makroökonomische Analysen und kurzfristige Prognosen (ZMAKP). Das ist der vierte Quartalsanstieg in Folge und um 12,4 % mehr als im dritten Quartal 2016. Schlimmer noch: Der Wert ist der höchste seit Beginn der Wirtschaftskrise 2014. Und der Septemberwert lag sogar um nur 2,1 % unter dem historischen Höchstwert aus dem Oktober 2009, dem ersten Finanzkrisenjahr, als Russlands Wirtschaft um 7,8 % einbrach.Im Unterschied zu damals geht die Wirtschaft im Moment nicht zurück, sondern erholt sich nach einer zweijährigen Rezession gerade erst wieder. Im zweiten Quartal ist sie sogar um 2,5 % gewachsen – so stark wie seit 2012 nicht mehr. Das hat die Hoffnung genährt, dass der Aufschwung nachhaltig sein werde.Inzwischen ist man in Moskau etwas ernüchtert. Schon das dritte Quartal zeigte eine Verlangsamung auf 1,8 %, wobei die Industrieproduktion im Oktober in eine Stagnation verfiel. Das traditionell optimistische Wirtschaftsministerium bleibt zwar bei seiner Prognose von 2,1 % Wachstum für das Gesamtjahr, so gut wie alle Experten aber halten einen Wert von 1,7 bis 1,8 % für das Maximum. So auch Zentralbankchefin Elvira Nabiullina, die jüngst konstatierte, dass die natürliche Erholung von der Rezession fast abgeschlossen sei. Das jetzige Wachstum sei nahe am Potenzialwachstum und nur durch Reformen auf 3 bis 4 % zu beschleunigen. Fallende RealeinkommenBesondere Sorgen bereitet der Umstand, dass die real verfügbaren Einkommen der Bevölkerung entgegen allen Prognosen immer weiter fallen. Und zwar mittlerweile 12 Quartale am Stück. Seit 2013 seien sie um ganze 11 % zurückgegangen, errechnete die Ratingagentur Fitch. “Ein riesiges Fiasko, das nur mit dem vergleichbar ist, was 1992 war”, sagte dieser Tage Andrej Klepatsch, vormals stellvertretender Wirtschaftsminister und nun Vizechef des staatlichen Finanzierungsvehikels Vnesheconombank. Das alles bremst vor allem den Konsum und den Bausektor, wie zuletzt die Daten für Oktober zeigten. Bezeichnend, dass gerade diese Bereiche es sind, in denen die meisten Firmenpleiten im dritten Quartal stattfanden. Auffällig auch die Zunahmen beim Transport, bei der Lebensmittelverarbeitung und dem Maschinenbau. Vor allem Firmen mit Geschäftsbeziehungen zum Endkunden seien auf ihren Forderungen sitzen geblieben und bankrottgegangen, schreibt das ZMAKP.Was derzeit vor sich geht, ist gewissermaßen die zweite Bankrottwelle. Die erste hatte 2014 bis 2015 stattgefunden. Gewiss, damals hatte der Staat auf dem realen Sektor noch aktiver interveniert und damit die Folgen der Wirtschaftskrise abgefedert. Das Problem aktuell ist, dass anstelle der insolventen Firmen keine neuen entstehen, wie Georgi Ostapkowitsch, Ökonom der Moskauer Higher School of Economics, laut der Zeitung “Wedomosti” betonte.Mit der unternehmerischen Aktivität steht es in der Tat nicht zum besten, wie etwa Dmitri Polewoj, Chefökonom der ING-Bank in den GUS-Staaten, konstatiert. Sie wachse genauso wenig wie das Volumen bei Unternehmenskrediten. Laut staatlicher Statistikbehörde Rosstat hat sich das Wachstum bei den Investitionen im dritten Quartal gegenüber dem Vorquartal auf 3,4 % nahezu halbiert.Die Geschwindigkeit, mit der die Zentralbank den hohen Leitzins absenkt, scheint einfach zu gering. Seit 2. Mai ist er in mehreren Schritten um 1 Prozentpunkt auf nun 8,25 % heruntergeschraubt worden. Nabiullina stellte nun weitere Leitzinssenkungen in Aussicht. Das sollte auch die Investitionen ankurbeln. Jubelmeldungen erbetenDer Kreml bräuchte sie angesichts der Präsidentenwahl im März 2018 wie die Luft zum Atmen. Und überhaupt braucht er positive Wirtschaftsnachrichten, um das Narrativ von der Unverwundbarkeit der russischen Wirtschaft trotz Wirtschaftssanktionen aufrechtzuerhalten.Zumindest die Nachrichten darüber sollten nun nach dem Wunsch des Kremls offenbar ganz bewusst die Firmen selbst produzieren. Das geht jedenfalls aus Dokumenten hervor, die der Nachrichtenagentur Reuters vorliegen. Ihr zufolge hat das Energieministerium Handreichungen an 45 Unternehmen ausgesandt, dass diese in nächster Zeit von neuen Arbeitsplätzen, wissenschaftlichen Erfolgen und neuer Infrastruktur berichten sollten – mit genauem Zeitplan für die Publikation. Die Botschaft: “Das Leben wurde für die Mehrheit der Menschen entspannter, bequemer und attraktiver.”