Inflation kann hilfreich sein, der Euro-Krise zu begegnen
Von James Purcell und Simon Smiles *)Was wäre einem Deutschen wohl lieber: Lohnerhöhungen in einem seit einer Generation unbekannten Ausmaß oder mit ansehen zu müssen, wie mit dem eigenen hart verdienten Geld die Schulden anderer bezahlt werden? Dies mag etwas übertrieben sein, jedoch stellen diese beiden Szenarien alternative Möglichkeiten zur Lösung der europäischen Krise dar. Zwei AlternativenBei der ersten Möglichkeit muss ein deutliches Inflationsgefälle zwischen den Kern- und den Peripherieländern hergestellt werden, das die Abnahme der Wettbewerbsfähigkeit der Peripherieländer in den letzten zehn Jahren rückgängig macht. Die zweite Möglichkeit würde in der Praxis bedeuten, Euroland-Bonds einzuführen und Umschuldungen in den Peripherieländern vorzunehmen. Wenn sich Deutschland weiter kategorisch gegen Eurobonds sperrt, könnte die Kombination aus einer höheren Gesamtinflation, größeren Inflationsunterschieden und Strukturreformen vielleicht der bessere Weg sein.Die einfachste Möglichkeit würde darin bestehen, dass die EZB entweder das Inflationsziel ausdrücklich von derzeit 2 % auf 3 % anhebt oder es zulässt, dass die Inflation über längere Zeit die aktuelle Zielvorgabe deutlich übersteigt. Aus unserer Sicht gibt es drei klare Vorteile.Eine höhere Inflation kann die Schuldentragfähigkeit verbessern. Die große Mehrzahl der Staatsanleihen hat einen festen Kupon, doch die Fähigkeit, diese Schulden zu bedienen, ist abhängig von den nominalen Steuereinnahmen. Die Erhöhung der Inflationskomponente des nominalen Bruttoinlandprodukts (BIP) würde mithin die Fähigkeit des Staates verbessern, Zinszahlungen zu leisten. Wenn die Inflation plus das reale BIP-Wachstum die Kosten der Schulden übersteigen, kann Schuldentragfähigkeit erreicht werden. Einer solchen Strategie sind Grenzen gesetzt, denn die Anleger haben in der Vergangenheit Inflationsprämien in die Renditen von Staatsanleihen eingerechnet. Da die Anleihenrenditen in weiten Teilen der Industriestaatenorganisation OECD unter der Inflationsrate liegen, legen die Anleger ihr Hauptaugenmerk derzeit aber anscheinend nicht auf die Inflationsprämien.Zweitens könnte eine höhere Inflation zur Abwertung des Euro führen. Die US-Notenbank, die Bank of England, die Bank of Japan und andere befinden sich gegenwärtig zwar in einem Wettlauf um die lockerste Geldpolitik, jedoch würde ein implizites oder explizites EZB-Inflationsziel von 3 % das höchste in den G 10-Staaten sein. Eine schwächere Gemeinschaftswährung würde daher die Exporteure in der Eurozone stützen und wir schätzen, dass ein Rückgang des Euro gegenüber den anderen OECD-Währungen um 10 % das BIP um rund 0,7 % steigen lassen und die Schuldentilgung beschleunigen würde. Mehr FlexibilitätDoch der potenzielle Hauptvorteil eines EZB-Inflationsziels von 3 % statt 2 % wäre die größere Flexibilität im Umgang mit den Inflationsunterschieden innerhalb der Eurozone.Wie groß das Gefälle bei der Wettbewerbsfähigkeit in der Eurozone ist, zeigt sich vielleicht am besten an den unterschiedlichen nominalen Arbeitskosten. In Deutschland stiegen die Arbeitskosten von 2000 bis 2009 um 18 %, mithin deutlich weniger stark als in Italien (35 %) und Spanien (50 %). Selbstverständlich schadete das der Wettbewerbsfähigkeit dieser Länder. Ausgehend von den Leistungsbilanzen, den Daten zu den Netto-Auslandsvermögen und bereinigt um den relativen Verbrauch und die Produktion handelbarer Güter sowie in Anbetracht der geografischen Zusammensetzung der Exportmärkte, deuten die Daten darauf hin, dass Italien und Spanien eine Anpassung des realen Wechselkurses um 20 %, Portugal und Griechenland indes um über 30 % benötigen würden. Dieses Gefälle ließe sich durch Inflationsunterschiede innerhalb der Eurozone beseitigen. Geht man von einem Inflationsunterschied von 2 bis 2,5 % jährlich zwischen den Kern- und den Peripherieländern aus, würde es rund zehn Jahre dauern, bis bei der Wettbewerbsfähigkeit wieder ein Gleichgewicht hergestellt ist.Diese Berechnungen zeigen, dass beim aktuellen EZB-Inflationsziel von 2 % das Inflationsgefälle zwischen den Kern- und den Peripherieländern die Letztgenannten zu einem Jahrzehnt der Deflation zu verdammen droht, was für die Schuldentragfähigkeit fatal wäre. Würde die EZB das Inflationsziel aber auf 3 % anheben, könnte das Inflationsgefälle zwischen den Kern- und den Peripherieländern fortbestehen, ohne dass dieses Risiko besteht. Historische Fakten beachtenDoch eine höhere Gesamtinflation und größere Inflationsunterschiede sind in Deutschland derzeit kaum ein Thema. Statt dessen herrscht nach wie vor der politische Konsens vor, dass schmerzhafte Strukturreformen wie jene, die Deutschland Mitte der 2000er-Jahre umgesetzt hat, für die Peripherieländer der Schlüssel zur Wiedererlangung der Wettbewerbsfähigkeit seien. Doch dieses Argument lässt die historischen Fakten außer Acht. Die Wurzeln der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit der Peripherieländer reichen bis zum Platzen der Technologieblase zurück, die Deutschland in eine tiefe Rezession stürzte. Deutschland war an den Maastricht-Vertrag gebunden, der das zulässige Haushaltsdefizit auf 3 % begrenzte. Daher konnte die Regierung keine nennenswerten fiskalpolitischen Anreize beschließen.Und so reagierte die EZB mit Zinssenkungen um 275 Basispunkte zwischen 2001 und 2003. Diese Geldpolitik war Gift für die Peripherieländer, und in der Folge stieg die Geldmenge M 3 zwischen 2000 und 2009 in der Eurozone ohne Deutschland fast zweimal so stark wie in Deutschland. Dadurch ging die Schere bei den Arbeitskosten weiter auseinander. Im Laufe des Jahrzehnts verdreifachte sich Deutschlands Handelsbilanzüberschuss gegenüber der Eurozone, während interessanterweise die Handelsbilanz im Verhältnis zu den USA und Asien weitgehend unverändert blieb. Dies deutet darauf hin, dass die Konjunkturerholung in Deutschland weniger mit Strukturreformen, sondern eher mit der rückläufigen Wettbewerbsfähigkeit der Peripherieländer zu tun hatte. Offenheit wird größerDer Gedanke mag weit hergeholt erscheinen, dass Deutschland trotz seiner historisch gewachsenen Abneigung gegen die Inflation, die durch die leidvolle Erfahrung der Hyperinflation in der Weimarer Republik tief in der Psyche des Landes verwurzelt ist, eine höhere Inflation akzeptieren könnte. Doch einige Äußerungen in letzter Zeit deuten auf eine etwas größere Offenheit hin. So haben die deutschen Gewerkschaften Lohnerhöhungen in Rekordhöhe ausgehandelt. Die 2,4 Millionen Mitglieder der IG Metall erhalten 4,3 % mehr Geld – der höchste Anstieg seit zwanzig Jahren. Nach Aussage des deutschen Finanzministers ist es “in Ordnung, wenn bei uns die Löhne nun stärker steigen als in anderen EU-Ländern. Diese Lohnsteigerungen tragen auch zum Abbau von Ungleichgewichten innerhalb Europas bei.” Und es gibt sogar einen Präzedenzfall. Nach der Wiedervereinigung gestattete die Bundesbank Anfang der 1990er-Jahre eine Inflation von 3 bis 6 %. Ursache und Lösung zugleichDie Lösung der Krise in der Eurozone erfordert offensichtlich mehr als nur eine höhere Inflation. Doch der Abbau des Gefälles bei der Wettbewerbsfähigkeit und die Ankurbelung des Wachstums durch eine höhere Inflation würden zweifelsohne helfen. Schließlich waren Inflationsunterschiede eine Ursache für die massiven Unterschiede der Wettbewerbsfähigkeit innerhalb der Eurozone. Sie dürften daher auch einen wichtigen Beitrag zur Lösung dieser Probleme liefern. Was würde man also als Deutscher wohl vorziehen: Das sehr verlockende Angebot einer kräftigen Lohnerhöhung oder mit ansehen zu müssen, wie mit dem eignen hart verdienten Geld die Schulden anderer bezahlt werden?—-*) James Purcell und Simon Smiles arbeiten im Global Investment Office bei UBS Wealth Management.