Inflationsdaten rütteln am EZB-Bild
ms Frankfurt
Die Inflation im Euroraum nimmt Kurs auf die Marke von 4% – ein Niveau, das es mit einer einzigen Ausnahme Mitte 2008 seit Einführung des Euro nicht gegeben hat. Weil zugleich auch der zugrunde liegende Preisdruck spürbar zunimmt, wachsen zunehmend die Zweifel am Narrativ eines nur vorübergehenden Inflationsschubs – wie es etwa die Europäische Zentralbank (EZB) vertritt. Der Druck auf die EZB nimmt damit zu, und die Debatte in der Notenbank dürfte an Schärfe gewinnen – auch wenn bislang nicht absehbar scheint, dass die Euro-Hüter bald dem härteren Kurs anderer Notenbanken folgen werden.
Im September stieg die Inflation im Euroraum erneut deutlich und wieder einmal stärker als erwartet an. Die Teuerungsrate kletterte von 3,0% auf 3,4%, wie Eurostat am Freitag in einer ersten Schätzung mitteilte. Volkswirte hatten im Mittel nur 3,3% erwartet. Höher hatte die Inflation zuletzt im September 2008 gelegen. Besonders stark verteuerte sich jetzt Energie, deren Kosten zum Vorjahresmonat um 17,4% zulegten. „Beim Preisanstieg geht die Post weiter auf der Energieseite ab“, sagte Alexander Krüger, Chefvolkswirt beim Bankhaus Lampe.
In den nächsten Monaten dürfte die Inflation weiter ansteigen und womöglich die 4-Prozent-Marke erreichen. „Die Inflation dürfte sich bis November auf über 4% beschleunigen, da das Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage die Preissetzungsmacht der Unternehmen stärkt und der Anstieg der Energiepreise die Gesamtinflation weiter ansteigen lässt“, sagte am Freitag auch Iaroslav Shelepko von Barclays. Seit Einführung des Euro im Jahr 1999 hat die Inflationsrate nur in einem Monat bei mehr als 4% gelegen – im Juli 2008 bei 4,1%.
Im September nahm aber auch der zugrunde liegende Preisdruck zu, der als besserer Maßstab für den Inflationstrend gilt. Die Kernrate ohne Energie und Lebensmittel kletterte von 1,6% auf 1,9%. Zwar dürfte sie durch Sondereffekte nach oben verzerrt sein. Zugleich zeigt sie aber, dass der unterliegende Preisauftrieb zugenommen hat. Christoph Weil, Volkswirt bei der Commerzbank, verwies da insbesondere auf die weltweit anhaltenden Lieferengpässe und die Erholung vieler Dienstleistungspreise nach der Lockerung der Coronabeschränkungen.
Insgesamt wachsen damit die Zweifel, dass es sich um ein rein temporäres Phänomen handelt. Bereits zuvor hatte insbesondere der zunehmende Preisdruck auf den den Verbraucherpreisen vorgelagerten Stufen – etwa bei den Erzeuger-, den Großhandels- sowie den Importpreisen – solche Zweifel geschürt. In Deutschland sind diese Preisanstiege so hoch wie seit den Ölkrisen der 70er und 80er Jahre nicht mehr.
Die EZB hält bislang aber zumindest mehrheitlich daran fest, dass der Inflationsanstieg nur temporär sei. Erst am Dienstag hatte EZB-Chefin Christine Lagarde diese Sicht untermauert und gesagt, die EZB dürfte auf „vorübergehende Angebotsschocks nicht überreagieren“. Sie verwies zudem auf die neue EZB-Strategie, die es der Notenbank erlaube, „geduldig“ zu sein, bis die Inflation nachhaltig dem 2-Prozent-Ziel entspreche. Allerdings haben sich zuletzt auch mahnende Stimmen aus dem EZB-Rat gemehrt, die vor „Aufwärtsrisiken“ für die Inflation warnten – und das nicht nur von Hardlinern. Bislang erwarten die EZB-Volkswirte für 2023 nur 1,5% Inflation. Das gilt aber auch Notenbankern als zu niedrig angesetzt.
Eine zentrale Rolle nehmen nun die Inflationserwartungen und die nächsten Tarifabschlüsse ein. Eine gefährliche Lohn-Preis-Spirale will die EZB auf jeden Fall verhindern. Die langfristigen Inflationserwartungen an den Märkten sind seit Jahresbeginn um rund 50 Basispunkte auf aktuell rund 1,80% angestiegen. Das ist aber noch unterhalb des 2-Prozent-Ziels. Auch deswegen agiert die EZB vorsichtiger als etwa die US-Notenbank und die Bank of England.