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Japan gehen die Arbeitskräfte aus

Von Martin Fritz, Tokio Börsen-Zeitung, 12.4.2017 Eine weitgehend unbeachtete Folge der alternden Gesellschaft in Japan ist der wachsende Mangel an Arbeitskräften. Die Entwicklung macht immer mehr Unternehmen zu schaffen. Beispiel Yamato Transport:...

Japan gehen die Arbeitskräfte aus

Von Martin Fritz, TokioEine weitgehend unbeachtete Folge der alternden Gesellschaft in Japan ist der wachsende Mangel an Arbeitskräften. Die Entwicklung macht immer mehr Unternehmen zu schaffen. Beispiel Yamato Transport: Der Logistikriese wird die Zahl der ausgelieferten Sendungen demnächst verringern und die beliebte Schnellzustellung von Amazon-Paketen aufgeben. Zugleich erhöht Yamato erstmals seit 1990 die Preise, bezahlt seinen Zustellern die Überstunden und führt eine Mittagspause für Auslieferer ein. Nippons größter Paketdienst verzichtet also künftig auf Umsatz und verbessert die Arbeitsqualität, nur um als Arbeitgeber attraktiver zu werden und dadurch genug Paketwagenfahrer zu finden.Die Maßnahmen sind eine direkte Reaktion auf Japans leer gefegten Arbeitsmarkt. Dort herrscht mit einer Arbeitslosenquote von nur 2,8 % im Februar nicht nur de facto Vollbeschäftigung, sondern mit 143 Stellenangeboten auf 100 Bewerber bereits ein starker Mangel an Arbeitskräften, zumindest in den Bereichen Logistik, Bau und Einzelhandel sowie bei Dienstleistern von der Altenpflege bis zur Gastronomie.Die kritische Lage ist eine Folge der demografischen Veränderungen. Seit dem Hochpunkt von 1997 ist Japans erwerbfähige Bevölkerung (zwischen 15 und 64 Jahren) binnen zwei Jahrzehnten von 87 Millionen um fast 12 % auf 76,2 Millionen gesunken, also im Schnitt um über 500 000 jährlich. Parallel stieg der Anteil der über 65-Jährigen an der Bevölkerung auf den weltweiten Rekordwert von 26,7 %.Angesichts dieser Zahlen müsste der Mangel an Arbeitskräften eigentlich noch viel größer sein als ohnehin schon. Doch die Zahl der Beschäftigten fiel nicht im gleichen Ausmaß wie die Zahl der Erwerbsfähigen, nämlich nur um 1,5 % auf 64,8 Millionen. Dafür sind zwei Faktoren ursächlich. Zum einen arbeiten mehr Rentner. Die Zahl der Erwerbstätigen über 60 Jahren (bis 2013 das gesetzliche Rentenalter in Japan) stieg von 2000 bis 2013 um 3,3 Millionen auf 12,5 Millionen. Laut UBS Japan sind aktuell 23 % der Japaner im Rentenalter erwerbstätig. Das effektive Rentenalter der Männer beträgt 69,3 Jahre und dasjenige der Frauen 67,6 Jahre (2014). Zum anderen arbeiten mehr Frauen. Im Dezember waren 68,6 % der Japanerinnen erwerbstätig. Ihre Erwerbsquote ist in anderthalb Jahrzehnten um 9 Punkte gestiegen.Allerdings sind beide Trends schon recht weit fortgeschritten, so dass bei Rentnern und Frauen nur noch geringe Beschäftigungsreserven schlummern. Bald erreichen die Babyboomer-Jahrgänge (1947 bis 1949) die Schwelle von 70 Jahren und dürften danach massenhaft aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Bei den Frauen hätte die Erwerbsquote noch einige Punkte Spielraum nach oben, wenn man sie mit den skandinavischen Ländern vergleicht. Daher fördert die Regierung von Shinzo Abe die Frauenarbeit, etwa durch den Bau von Kindergärten, eine freiwillige Quote für Leitungspositionen und die Erhöhung des Steuerfreibetrags für arbeitende Ehefrauen. Aber in den nächsten Jahren wird die Zahl der dementen und kranken Senioren steigen. Für die Versorgung solcher Angehöriger sind in Japan die Frauen zuständig. Die Familien werden sie in die Pflicht nehmen, weil es kaum Altersheime und private Altenpfleger gibt. Das schränkt ihre Erwerbsmöglichkeiten ein.Daher droht der demografische Wandel Japans Wachstum in den nächsten Jahren zu bremsen. Laut einer offiziellen Prognose geht die Zahl der Erwerbstätigen bis 2030 auf 55,6 Millionen zurück. Wie Yamato werden dann noch mehr Unternehmen ihre Angebote einschränken. Dabei strebt die Regierung offiziell ein Wachstum von 2 % jährlich an. Dafür bräuchte Japan nach einer Kalkulation des Daiwa-Forschungsinstituts jedoch 1,9 Millionen mehr Erwerbstätige.Das klassische Mittel wären ausländische Gastarbeiter oder Einwanderer. Doch in Japan ist dies ein Tabuthema. Lieber setzt die Regierung auf eine Steigerung der Produktivität durch den vermehrten Einsatz von Robotern und künstlicher Intelligenz. Auch UBS Japan geht davon aus, dass die Unternehmen ihre Margen künftig über die Produktivität steigern werden. Ein Beispiel sind die halbautomatischen Bagger und Bulldozer von Komatsu, die sich auch von ungelernten Kräften bedienen lassen. Japanische Versicherungen entdecken gerade smarte Software wie das IBM-Programm Watson, etwa um Auszahlungen an Kunden zu kalkulieren.Auch bei Pflegerobotern erhofft sich die Regierung so große technologische Fortschritte, dass man keine ausländischen Arbeitskräfte für die Versorgung der Senioren-Heerscharen ins Land holen muss. Die Maschinen würden zugleich die japanischen Frauen in der Angehörigenpflege entlasten und eine höhere weibliche Erwerbsquote ermöglichen. Bisher reichen die Fähigkeiten der Apparate jedoch bei weitem nicht aus, um einen menschlichen Pfleger zu ersetzen. Löhne hinken hinterherAußer der Produktivität könnte der Arbeitskräftemangel auch den Löhnen auf die Sprünge helfen. Auf diesen antideflationären Effekt wartet Japans Notenbank schon seit Jahren. Tatsächlich sind die Stundenlöhne der Zeitarbeiter zuletzt erkennbar gestiegen. Aber die Großunternehmen bekommen den Mangel noch nicht zu spüren. Jedenfalls fielen ihre jüngsten Lohnerhöhungen deutlich kleiner aus als im Vorjahr. Offenbar bewerben sich noch genug hoch qualifizierte Berufsanfänger bei ihnen.