GASTBEITRAG

Japan muss sich für Wachstum reformieren

Börsen-Zeitung, 19.4.2019 Die weltweiten Wachstumsaussichten werden zwar durch den Handelskonflikt zwischen China und den USA und die Anziehungskraft höherer Zinsen immer schwerer prognostizierbar, aber wir glauben, dass das aktuelle Reformprogramm...

Japan muss sich für Wachstum reformieren

Die weltweiten Wachstumsaussichten werden zwar durch den Handelskonflikt zwischen China und den USA und die Anziehungskraft höherer Zinsen immer schwerer prognostizierbar, aber wir glauben, dass das aktuelle Reformprogramm in Japan die langfristige Wachstumsrate beflügeln dürfte. Japan setzt auf drei Arten von Reformen, um seinen Struktur- und Governance-Schwächen zu begegnen: eine ü«Einwanderungsreform, eine Arbeitsstilreform und eine Corporate-Governance-Reform.Um diese Reformen in ihrem jeweiligen Kontext zu betrachten, ist eine Analyse der jüngeren Wirtschaftsgeschichte Japans und der neuesten Erfolge sinnvoll. Die vergangenen 40 Jahre lassen sich in drei Zeitabschnitte einteilen: in das außerordentliche Wachstum der 1980er Jahre, die Deflationsspirale der 1990er Jahre und den Zeitraum von Ende 2012 bis heute, der von den Strukturreformen der “Abenomics” geprägt ist. Nach der langen Deflationsphase, die auf das kräftige Wachstum der 80er Jahre folgte, richteten die meisten japanischen Unternehmen ihren Fokus nach innen, legten kaum Wert auf eine effiziente Kapitalallokation. Nach den 15 Jahren des Nullwachstums von 1998 bis 2013 beginnen die Reformen von Präsident Shinzoéì Abe jedoch endlich Früchte zu tragen, und das BIP nimmt Kurs auf den Zielwert der Regierung: 600 Bill. Yen. Zwar war der Inflationsdruck nicht stark genug, um das 2 %-Ziel der Bank of Japan (BoJ) zu übertreffen, aber die Konjunkturindikatoren deuten eindeutig darauf hin, dass die Deflation überwunden ist.Das BIP hängt sowohl von der Zahl der Erwerbstätigen als auch von der Produktivität ab. Japan hat sich in der Vergangenheit bei der Einwanderung zurückhaltend gezeigt, aber angesichts der alternden Bevölkerung muss die Erwerbsbevölkerung dringend durch Zuwanderung vergrößert werden. Anfangs war die Regierungspolitik insbesondere darauf ausgelegt, mehr Frauen und ältere Menschen in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Dies allein wird jedoch nicht ausreichen, um die große Lücke zwischen Angebot und Nachfrage zu schließen. Daher hat Japan nach und nach seine Türen für mehr Arbeitskräfte aus dem Ausland geöffnet. Wenngleich Einwanderung grundsätzlich ein umstrittenes Thema ist, kommt die Deregulierung einem Land, das zur Stützung des Wirtschaftswachstums schnellstmöglich mehr Arbeitskräfte benötigt, in jedem Fall zugute. Die Zahl der ausländischen Arbeitnehmer ist in den letzten fünf Jahren um 87 % auf 1,3 Millionen gestiegen. Sie machen jedoch trotzdem nur 2 % der gesamten Erwerbsbevölkerung aus, verglichen mit etwa 17 % in den USA und 11 % in Großbritannien. Eine halbe Million Migranten Im Juni 2018 kündigte die Regierung ein qualifikationsgebundenes Visum an, das bis 2025 etwa 500 000 neue Arbeitnehmer ins Land locken soll. Dem UN-Bericht “Replacement Migration” zufolge benötigt Japan von 2000 bis 2050 jedes Jahr 343 000 Migranten, damit die Gesamtbevölkerung von 126 Millionen nicht weiter schrumpft. Außerdem sind demnach 647 000 Migranten pro Jahr nötig, um die Gesamtbevölkerung im erwerbsfähigen Alter bei 77 Millionen zu halten.Diese Prognose deutet darauf hin, dass das Ziel der Regierung von 500 000 nicht hoch genug ist, aber aus unserer Sicht ist die Öffnung des Landes für Ausländer der erste Schritt zur Transformation der japanischen Bevölkerungsstruktur. Japan ist auf dem Weg zu einer weniger homogenen Gesellschaft und durchlebt damit eine ähnliche Erfahrung wie vor etwa 150 Jahren, als der Vertrag von Kanagawa von 1854 mit den USA Japan zwang, seine nationale Isolationspolitik zu beenden. Es folgten eine rasante Verwestlichung der japanischen Kultur und eine umfangreiche Industrialisierung. Wenn sich die Geschichte wiederholt, könnte eine höhere Zuwanderung jahrzehntelange Investitionsmöglichkeiten eröffnen.Im Wissen, dass die Produktivität Japans weit unter dem OECD-Durchschnitt liegt, hat die japanische Regierung 2018 als Teil eines umfassenderen Pakets von Arbeitsmarktreformen die “Arbeitsstilreform” eingeführt. Während das verarbeitende Gewerbe in Japan bei der Einführung der Fabrikautomatisierung weltweit führend ist, ist die Arbeitsproduktivität im nichtverarbeitenden Gewerbe nach wie vor recht niedrig. Arbeitsstilreformen wirken sich erheblich auf das Produktivitätswachstum und den zukünftigen Arbeitsstil aus. Die Reformen gehen über die klassischen Ziele – Arbeitszeiten, Löhne und Arbeitsflexibilität – hinaus. Diese Reformen sollen insbesondere durch die Einführung neuer Technologien zur Steigerung der Produktivität beitragen. So will die Regierung Innovationen vorantreiben, zum Beispiel in den Bereichen künstliche Intelligenz, Fabrikautomatisierung und Internet der Dinge, die allesamt die Produktivität erhöhen sollen. Ein schnellerer Ausbau der 5G-Kommunikationsinfrastruktur würde diesen Wandel noch beschleunigen.Eine gute Orientierungshilfe für die Einschätzung der voraussichtlichen Wirksamkeit von Arbeitsstilreformen sind womöglich die USA. In den USA nahm die Produktivität in den 1980er Jahren Fahrt auf und steigt seitdem kontinuierlich.Unseres Erachtens gibt es zwischen der aktuellen Situation in Japan und der Entwicklung in den USA einige Parallelen. In Japan hat die radikale Deregulierung im Landwirtschafts-, Finanz- und Medizinsektor sowie auf dem Arbeitsmarkt begonnen. Es ist noch nicht klar, wie rasant die Produktivität in Japan zunehmen wird, aber unserer Einschätzung nach stehen die Chancen gut, dass das Land in den nächsten Jahren zumindest die OECD-Länder einholen wird. Corporate GovernanceEin weiterer wichtiger Aspekt der japanischen Wachstumsstrategie ist die Umgestaltung der Corporate Governance, um die Leistungsfähigkeit privater Unternehmen zu nutzen. Dass die Unternehmensleitungen den Schwerpunkt mehr auf die Eigenkapitalrendite (Return on Equity, ROE) gelegt haben, mehr externe Boardmitglieder gewonnen wurden und eine konstruktive Kommunikation mit den Investoren angestrebt wurde, hat sich als sehr konstruktiv erwiesen. Japanische Unternehmen haben sich stärker auf ihre Rentabilität und Kapitaleffizienz konzentriert. Infolgedessen ist ihre Eigenkapitalrendite von 3 % im Jahr 2011 auf rund 9 % im Jahr 2017 gestiegen, was in etwa dem Niveau europäischer Unternehmen entspricht. Mit der Corporate-Governance-Reform haben sich die Inhalte unserer Treffen mit vielen leitenden Managementteams aus Japan deutlich verändert. Der Schwerpunkt liegt nun auf langfristigen Strategien, Erträgen, Kapitalmanagement und der Entwicklung einzigartiger Geschäftsmodelle. Aus unserer Sicht ist die Corporate-Governance-Reform ein mehrjähriger, unumkehrbarer Trend. Tief hängende FrüchteSelbst wenn die gesamtwirtschaftliche Entwicklung weniger positiv ausfallen sollte, gibt es für japanische Unternehmen zur Stützung der Eigenkapitalrendite genügend “tief hängende Früchte zu ernten”. Deutliches Optimierungspotenzial gibt es nach wie vor im Geschäftsportfoliomanagement, einschließlich einer besseren Durchführung von M&A-Vorhaben, Investitionsausgaben, Restrukturierungen, Veräußerungen von nicht zum Kerngeschäft gehörenden Vermögenswerten und Produktinnovationen. Angesichts der hohen Cash-Bestände von rund 1,7 Bill Dollar ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass Unternehmen weiterhin ihre Dividenden erhöhen und eigene Aktien erwerben werden. Anders ausgedrückt: Wir glauben, dass die hohen Cash-Bestände der Unternehmen die Aktienkurse vor Abwärtsrisiken schützen dürften.Längerfristig dürfte sich die Kombination dieser drei Reformen – die Vergrößerung der Erwerbsbevölkerung, die Steigerung der Produktivität und die Verbesserung der Corporate Governance – als leistungsstarker Impulsgeber für die japanische Wirtschaft erweisen.—–Daisuke Nomoto, Senior Portfolio Manager, Columbia Threadneedle