WACHWECHSEL IN WESTMINSTER

Johnson setzt sich durch

Trump: Er wird großartig sein - Mehrheit im Unterhaus wackelt - No-Deal-Brexit wahrscheinlicher

Johnson setzt sich durch

Die britischen Konservativen haben sich für Boris Johnson als neuen Parteichef entschieden. Er folgt damit auf Theresa May als Premierminister. Allerdings wackelt seine Unterhausmehrheit, weil EU-Austrittsgegner den “No Deal” verhindern wollen. Ein Austritt zum 31. Oktober ist deshalb wenig wahrscheinlich.Von Andreas Hippin, LondonDer ehemalige Londoner Bürgermeister Boris Johnson ist von den Mitgliedern der regierenden Konservativen mit großer Mehrheit zum neuen Parteichef gewählt worden. Er wird damit auch Nachfolger von Premierministerin Theresa May, die ihr Amt am Mittwoch niederlegen wird. Das ehemalige Gesicht von “Vote Leave” polarisiert: “Er wird großartig sein”, twitterte US-Präsident Donald Trump umgehend. “Eine dunkle und deprimierende Zeit für Großbritannien”, verlautbarte dagegen Chuka Umunna, der einstige Labour-Hoffnungsträger, der mittlerweile bei den Liberaldemokraten gelandet ist. Die Forderung von Charles Walker, dem stellvertretenden Chairman des Parteiausschusses, der die Wahl durchführte, doch bitte “liebenswürdiger” zum nächsten Premierminister zu sein als zur Amtsinhaberin, dürfte ungehört verhallen. “Schlafender Riese””Wie ein schlafender Riese werden wir aufstehen und die Fesseln der Selbstzweifel und der Negativität abwerfen”, kündigte Johnson in seiner Antrittsrede an. “Wir werden dieses großartige Land vereinen, und wir werden es voranbringen – mit besserer Bildung, besserer Infrastruktur, mehr Polizei, fantastischem Glasfaser-Breitband für jeden Haushalt.” Man werde alle Möglichkeiten, die der Brexit biete, im Geiste von “Wir schaffen das” nutzen. “Und wir werden wieder an uns glauben und daran, was wir erreichen können.”John McDonnell, der im Falle eines Labour-Wahlsiegs Schatzkanzler würde, nannte die Ansprache “quälend” und “peinlich”. Sie habe an Reden erinnert, wie sie im Golfclub nach dem Abendessen gehalten würden. Labour-Chef Jeremy Corbyn forderte Johnson auf, eine Neuwahl anzusetzen. “Rund 100 000 Mitglieder der Tories haben uns einen Premierminister aufgezwungen, der nachweisbar borniert, rassistisch, verlogen und inkompetent ist”, kommentierte Caroline Lucas, die Parteichefin der Grünen. “Das ist nicht Demokratie. Das findet nicht in unserem Namen statt.”Aus Sicht der Ratingagentur Moody’s und vieler anderer Beobachter aus der Finanzbranche ist die Wahrscheinlichkeit eines ungeregelten Brexit durch die Entscheidung für Johnson gestiegen. Zu nennenswerten Marktreaktionen kam es dennoch nicht, denn mit einem Sieg Johnsons war weithin gerechnet worden. Vielleicht verfolge das Enfant terrible der britischen Politik ja eine konziliantere Herangehensweise, wenn er erst einmal im Amt ist, hofft Mark Haefele, der Anlagechef des Global Wealth Management der Schweizer UBS. Dafür spricht, dass Johnson mit Mark Spencer einen Austrittsgegner zum Fraktionschef (Chief Whip) ernannt hat. Unterhausmehrheit wackeltFür Johnson votierten 92 153 Mitglieder der Tories, für seinen Rivalen Jeremy Hunt, der nach Johnsons Rücktritt im vergangenen Jahr das Außenministerium übernommen hatte, fanden sich 46 656 Stimmen. Damit hat der prominente EU-Austrittsbefürworter die Zweidrittelmehrheit bekommen, die er sich gewünscht hat. Zumindest die Parteibasis erteilte ihm damit das Mandat für einen Brexit ohne vorherige Übereinkunft mit Brüssel. Das im Namen von May von der Verwaltung mit der EU-Kommission ausgehandelte Austrittsabkommen ist damit endgültig vom Tisch.Allerdings fehlt Johnson eine arbeitsfähige Mehrheit im Parlament, denn seine Gegner unter den Tory-Abgeordneten drohten bereits damit, im Falle eines Misstrauensvotums der Opposition gegen die eigene Regierung zu stimmen, sollte sich nur so ein No-Deal-Brexit verhindern lassen. Johnson hatte wiederholt angekündigt, das Land am 31. Oktober aus der EU zu führen, ob sich bis dahin eine Übereinkunft mit Brüssel erzielen lasse oder nicht. Der Buchmacher Betfair beziffert die Wahrscheinlichkeit, dass es so kommt, auf 29 %. Eine vorzeitige Beendigung der Sitzungsperiode, um einen Hard Brexit durchzupeitschen, würde nicht nur im Unterhaus auf erbitterten Widerstand stoßen. Die Uhr tickt. Wenn Johnson sein Amt antritt, hat er gerade einmal 36 Stunden, bis sich das Unterhaus in die Sommerpause verabschiedet. Bis zum Austrittstermin am 31. Oktober bleiben ihm 100 Tage, um einen Deal auszuhandeln und durchs Parlament zu bringen. Alles spricht dafür, dass er Brüssel um eine weitere Fristverlängerung bitten muss. Zudem muss man sich in Resteuropa darauf einstellen, dass es schon bald zur Neuwahl kommen könnte. Auch dann wäre Johnson gezwungen, die EU um eine weitere Verlängerung der Austrittsfrist zu bitten, um die Wahl abhalten zu können.Kein Wunder, dass Richard Tice, der Chairman der Brexit Party, davor warnt, Johnson zu vertrauen. “Seitdem er für die fürchterliche Austrittsvereinbarung gestimmt hat, die er zuvor Vasallentum nannte, ist Boris nicht dafür bekannt, in Sachen Brexit sein Wort zu halten”, kommentierte Tice. “Wir sind die einzige Partei, der man vertrauen kann, wenn es um den Brexit geht.” Das neue Vehikel von Nigel Farage will Kandidaten für alle 650 Sitze in Großbritannien aufstellen, wenn es zu einer Neuwahl kommt. Dann wird sich zeigen, ob Johnson, wie von vielen Tories erhofft, als Wunderwaffe gegen die Brexit Party hilft. Sie können nur hoffen, dass sich die Austrittsgegner auch nicht einigen können. Jo Swindon, die neue Chefin der Liberaldemokraten, schloss bereits aus, mit Jeremy Corbyn gemeinsame Sache zu machen.May erhielt von ihrem Kabinett zum Abschied eine Liberty-Handtasche und etwas Schmuck von Lalique. Umweltminister Michael Gove hatte seine Kabinettskollegen um 50 Pfund pro Nase gebeten.