Kann man Experten noch vertrauen?
Von Gerald Hosp, LondonDer Abstimmungskampf um den Brexit hat einige denkwürdige Momente hervorgebracht. Einer davon war die Aussage des früheren konservativen Justizministers Michael Gove: “Wir haben genug von Experten.” Von den einen wurde der Satz als Befreiung vom Joch voreingenommener Technokraten empfunden, von den anderen als befremdlicher Aufschrei der emotionsgeladenen Wahrnehmung gegen die Vernunft in der noch Vor-Trump-Ära. Sollten tatsächlich Operationen ohne Chirurgen unternommen werden, hieß es belustigt.Der Satz von Gove wird meist bruchstückhaft zitiert. Die vollständige Aussage lautet: “Wir haben genug von Experten aus Organisationen mit Akronymen, die uns sagen, was für uns am besten ist, und die immer falschliegen.” Damit meinte Gove, der einer der führenden Brexit-Befürworter im Abstimmungskampf war, dass Ökonomen in Organisationen wie dem Arbeitgeberverband CBI, dem Internationalen Währungsfonds IWF, der Industrieländerorganisation OECD oder der britischen Nationalbank BoE nicht zu trauen sei.In einem Podiumsgespräch über die Rolle von Experten und Politikern in der öffentlichen Debatte stellte sich Gove vor kurzem dem Wirtschaftswissenschaftler Jonathan Portes vom Londoner King’s College. Der konservative Tory-Politiker nahm seine Aussage nicht zurück, sondern verfeinerte sie. Natürlich solle man auf Experten hören, meinte er. Gleichzeitig müssten Technokraten aber immer auch angezweifelt werden. Es gebe immer eine rivalisierende Meinung, sagte Gove. Häme und HeucheleiEs ist eine Binsenweisheit, dass die Sozialwissenschaften wie die Ökonomie keine Prognosekraft wie die Naturwissenschaften aufweisen. Dennoch wird das Bild der Wirtschaftswissenschaft in großem Maße von falschen, richtigen oder verpassten Prognosen geprägt. Der Zunft wird immer noch gerne mit Häme vorgehalten, die Finanzkrise nicht auf dem Radar gehabt zu haben.Im Falle der Brexit-Entscheidung erwies sich die Prognose der meisten Forschungsinstitute, Behörden und internationalen Organisationen als falsch, dass es unmittelbar einen Wirtschaftseinbruch auf der Insel geben werde. Abgesehen vom Niedergang des Außenwertes des Pfund als makroökonomischem Stoßdämpfer erwies sich die britische Wirtschaft als sehr robust.Vor allem die Konsumenten hatten ihren Drang zum Geldausgeben nicht verloren. Die meisten Ökonomen, auch so manche aus dem Brexit-Lager, hatten damit gerechnet, dass aufgrund der Unsicherheit weniger konsumiert und investiert werde. Die Leute, die für den Brexit stimmten und in der Mehrheit waren, zeigten sich aber naturgemäß optimistischer als mancherorts erwartet.Gove trifft einen Punkt, wenn er Gruppendenken, Anflüge von Hochmut und das Nichteingestehen von Fehlern tadelt. Die Methoden innerhalb der Ökonomie sind aber breiter gefächert als in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Die Kehrseite von Gruppendenken ist der wissenschaftliche Konsens, der im Grunde angestrebt wird.Ökonom Portes wirft Gove im Gegenzug Heuchelei vor. Als Politiker habe er auch Organisationen mit Akronymen wie BoE oder IWF zitiert, wenn es ihm in den Kram gepasst habe. Die Diskussion über die Unabhängigkeit Schottlands bietet ein Anschauungsbeispiel: Viele englische Brexit-Befürworter, die in der Regel ein selbständiges Schottland ablehnen, pochen auf die ökonomischen Studien, die wirtschaftliche Nachteile in einem schottischen Alleingang sehen. Was auch so sein dürfte; der Ruf nach der rivalisierenden Meinung wie bei der Brexit-Diskussion fehlt jedoch.Was im Brexit-Abstimmungskampf nicht funktioniert hat, ist das einfache Verweisen auf Expertenmeinungen, das jedwede weitere Debatte unterbinden soll. Das Diskreditieren von Ökonomen als bloße Stimmungsmacher ist jedoch kein Ringen um das bessere Argument, sondern ein einfaches Zielen auf den Mann. Gove sieht auch aufgrund der sozialen Netzwerke größere Kapazitäten, um den Experten zu misstrauen. Der Politiker erachtet dies als eine Demokratisierung der Expertise, angestachelt durch einen unmittelbaren Faktencheck. Die sozialen Netzwerke bringen aber auch viel Falschmeldungen und Informationsmüll hervor.Auch wenn man Gove zuhört, hat Großbritannien noch nicht genug von Experten, aber von der falschen Gewissheit ihrer Aussagen. Portes formuliert drei Funktionen für Ökonomen: Erstens sollen sie in einfacher Sprache die wichtigsten Konzepte und Erkenntnisse erklären. Zweitens soll in Diskussionen Unsinn als Unsinn bezeichnet werden. Drittens gilt es, eine Entscheidungsgrundlage zu bieten, wenn der Konsens fehlt.