DAS KARLSRUHER URTEIL

Karlsruhe stößt EU-Gerichtshof vor den Kopf

Bundesverfassungsgericht beanstandet Mängel bei der Prüfung der EZB-Staatsanleihekäufe durch die Europarichter

Karlsruhe stößt EU-Gerichtshof vor den Kopf

Paukenschlag, Affront, Kampfansage: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Sachen EZB-Staatsanleihe-Kaufprogramm hat auch unter Nichtjuristen für Aufsehen gesorgt. Schließlich gehen die Karlsruher Richter in Opposition zum Europäischen Gerichtshof und setzen der Europäischen Zentralbank ein Ultimatum.fed Frankfurt – Das Bundesverfassungsgericht hat gestern ein Urteil gesprochen, das das Verhältnis zwischen europäischem und deutschem Recht maßgeblich beeinflusst. Deutschlands oberste Richter haben einen sogenannten Ultra-vires-Akt festgestellt (siehe Artikel unten): “Erstmals in seiner Geschichte stellt das Bundesverfassungsgericht fest, dass Handlungen und Entscheidungen europäischer Organe offensichtlich nicht von der europäischen Kompetenzordnung gedeckt sind und daher in Deutschland keine Wirksamkeit entfalten können”, erklärte Verfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle.Konkret geht es in dem Verfahren, in dem gestern das Urteil gefallen ist, um Beschwerden gegen ein Anleihekaufprogramm der Europäischen Zentralbank (EZB). Das ist nicht das erste Mal, denn bereits vorher war das Bundesverfassungsgericht mit dem Thema EZB-Anleihekäufe befasst (siehe Kasten). Anders als 2016 in der Rechtssache Gauweiler, in der sich die Beschwerde auf das OMT-Programm der EZB bezog, folgen die Karlsruher Richter dieses Mal nicht der Linie, die der Europäische Gerichtshof zuvor im Rahmen eines “Vorabentscheidungsersuchens” eingenommen hatte. Vielmehr weicht das Bundesverfassungsgericht klar vom EuGH-Urteil, das die Beschwerden gegen das EZB-Kaufprogramm zurückgewiesen hatte, ab, indem es feststellt: “Mit heute verkündetem Urteil hat der Zweite Senat mehreren Verfassungsbeschwerden gegen das Staatsanleihekaufprogramm (Public Sector Purchase Programme, PSPP) stattgegeben.”Die Karlsruher Richter erklären das Kaufprogramm für teilweise grundgesetzwidrig und äußern zugleich Vorwürfe in drei Richtungen. Erstens müssen sich Bundesregierung und Bundestag Kritik aus Karlsruhe gefallen lassen, weil sie es in Zusammenhang mit dem Kaufprogramm “unterlassen haben, dagegen vorzugehen, dass die EZB (. . .) weder geprüft noch dargelegt hat, dass die hierbei getroffenen Maßnahmen verhältnismäßig sind”. Zweitens knöpft sich das Gericht die EZB vor. Der Zentralbank stellt das Bundesverfassungsgericht das Ultimatum, den Nachweis der Verhältnismäßigkeit des Anleihekaufprogramms nun zügig nachzuholen – verhältnismäßig bezieht sich dabei auf die Abwägung der währungspolitischen Ziele mit den wirtschaftspolitischen Auswirkungen. Ultimatum von drei MonatenKommt die EZB dem nicht binnen drei Monaten nach, riskiert sie, dass das Bundesverfassungsgericht allen Staatsorganen und Behörden – und damit auch der Bundesbank als Bundesbehörde – verbietet, an dem Programm der Zentralbank weiterhin teilzunehmen. “Der Bundesbank ist es daher untersagt”, heißt es im Urteil, “nach einer für die Abstimmung im Eurosystem notwendigen Übergangsfrist von höchstens drei Monaten an Umsetzung und Vollzug der verfahrensgegenständlichen Beschlüsse mitzuwirken, wenn nicht der EZB-Rat in einem neuen Beschluss nachvollziehbar darlegt, dass die mit dem PSPP angestrebten währungspolitischen Ziele nicht außer Verhältnis zu den damit verbundenen wirtschafts- und fiskalpolitischen Auswirkungen stehen”.Zudem weisen die obersten deutschen Richter darauf hin, dass die Bundesbank, sollte die EZB nicht die Verhältnismäßigkeit nachweisen, dafür sorgen muss, die bisher erworbenen Anleihen wieder zu verkaufen.Drittens schließlich äußerten die Bundesverfassungsrichter unverhohlene Kritik am Europäischen Gerichtshof. Dessen Auffassung, der Beschluss des EZB-Rates über das Anleihekaufprogramm sei kompetenzgemäß, “verkennt in offensichtlicher Weise Bedeutung und Tragweite des auch bei der Kompetenzverteilung zu beachtenden Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit”. Dass die Europarichter bei ihrer Prüfung die tatsächlichen Auswirkungen der Anleihekäufe außer Acht ließen, “verfehlt die Anforderungen an eine nachvollziehbare Überprüfung der Einhaltung des währungspolitischen Mandats” der EZB.Zugleich lässt das Bundesverfassungsgericht wenig Zweifel daran, dass es die negativen wirtschaftspolitischen Auswirkungen als erheblich einschätzt. So würden Unternehmen künstlich am Leben gehalten, die eigentlich nicht mehr lebensfähig seien. Auch werde ein Exit aus den Kaufprogrammen mit zunehmender Dauer immer komplizierter, da sich die Politik auf die Fortsetzung verlasse und ein Ausstieg ohne Turbulenzen an den Märkten schwieriger werde.Schließlich habe das Anleihekaufprogramm erhebliche Folgen für Sparer, Versicherungskunden, Mieter oder auch Aktionäre, merkt das Verfassungsgericht an. Die Richter betonen zudem, dass sich ihr Urteil auf das PSPP bezieht – und nicht auf die finanziellen Hilfen, die zur Linderung der Folgen der Coronakrise gewährt werden.