Karlsruher EZB-Urteil erhitzt die Gemüter
ms Frankfurt – Das überraschende Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den billionenschweren EZB-Staatsanleihekäufen hat auch am Tag nach der Verkündung für hitzige Gemüter gesorgt und zu lebhaften Diskussionen geführt. Insbesondere aus Italien kam gestern Kritik daran, dass die Karlsruher Richter die Käufe teilweise als verfassungswidrig bezeichnet und der Europäischen Zentralbank (EZB) ein Ultimatum für Nachbesserungen gesetzt hatten. Im Fokus der Debatte steht auch die Rolle Deutschlands innerhalb der Währungsunion. Die EZB selbst ringt derweil weiter um die richtige Antwort.Das Bundesverfassungsgericht hatte sich am Dienstag zum ersten Mal in der Geschichte über ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) hinweggesetzt und das Anleihekaufprogramm PSPP (Public Sector Purchase Programme) als nicht konform mit dem Grundgesetz bezeichnet. Die EZB habe die Verhältnismäßigkeit von PSPP nicht ausreichend überprüft und nachgewiesen. Das müsse sie binnen drei Monaten nachholen – sonst dürfe sich die Bundesbank nicht mehr beteiligen.Italiens Regierungschef Giuseppe Conte kritisierte gestern, dass Verfassungsgerichte der Euro-Länder der EZB keine Fesseln in der Geldpolitik anlegen könnten. “Es ist nicht die Sache irgendeines Verfassungsgerichts zu entscheiden, was die EZB machen oder nicht machen kann”, sagte Conte der italienischen Zeitung “Il Fatto Quotidiano”. Die Unabhängigkeit der EZB sei Dreh- und Angelpunkt der europäischen Verträge, die auch Deutschland anerkenne. Italien profitiert derzeit in besonderem Maße von den Anleihekäufen. Kritik gab es aber auch aus Frankreich. Das Urteil sei “kein Element der Stabilität”, sagte Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire.Die Bundesregierung untermauerte unterdessen gestern, dass sie innerhalb der von den Richtern gesetzten Drei-Monats-Frist auf das Urteil reagieren werde. Berlin soll nach Vorstellung der Karlsruher Richter auf die EZB einwirken. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte laut dpa-afx am Dienstag in der Unionsfraktion gesagt, dass Karlsruhe deutlich auf die Grenzen der EZB hingewiesen habe. Die Regierung werde das Urteil genau auswerten müssen.Der FDP-Finanzexperte Florian Toncar forderte eine stärkere Aufsicht über die EZB auch durch den Bundestag. Dort sei ein Sondergremium denkbar, sagte der Bundestagsabgeordnete der Nachrichtenagentur Reuters. Der Sprecher der Grünen im EU-Parlament, Sven Giegold, stellte sich indes gegen die EZB-kritischen Töne in Deutschland: “Die Lehre aus dem Urteil ist, dass die Euro-Länder mit gemeinsamer Fiskalpolitik die Geldpolitik der EZB entlasten müssen.” EZB ringt weiter um AntwortDie Euro-Hüter selbst suchen derweil noch nach der richtigen Reaktion. Wie bereits berichtet, sind die Meinungen teils durchaus unterschiedlich (vgl. BZ vom 6. Mai): Zumindest einige Notenbanker dringen darauf, den von Karlsruhe verlangten Nachweis über die Verhältnismäßigkeit vorzulegen, um den Konflikt nicht zu verschärfen und um einen erzwungenen Ausstieg der Bundesbank zu verhindern. Andere dagegen sehen es als Problem, wenn die EZB de facto einen Richterspruch aus Deutschland über ihre Geldpolitik akzeptieren würde.Auch die Meinungen der Volkswirte über die Folgen des Urteils für die EZB-Politik gehen auseinander. So ist etwa DIW-Präsident Marcel Fratzscher überzeugt, dass das Urteil “nichts Grundlegendes an der EZB-Geldpolitik und ihrer Krisenbekämpfung” ändere. Andere Volkswirte wie Anatoli Annenkov von Société Générale warnen dagegen, dass die Handlungsfähigkeit der EZB eingeschränkt sein könnte – in der Coronakrise und bei künftigen Krisen.