AUFRUHR IN LATEINAMERIKA - IM INTERVIEW: ROBERTO SIFÓN ARÉVALO

"Keine Krise des gesamten Kontinents"

Der Lateinamerika-Experte mahnt Differenzierung an

"Keine Krise des gesamten Kontinents"

Roberto Sifón Arévalo ist Managing Director, Head of Analytics and Research Global Sovereign & International Public Finance Ratings, bei Standard & Poor’s (S & P). Im Interview spricht er über die Lage in Lateinamerika.- Herr Sifón Arévalo, Argentinien, Venezuela, Brasilien, Mexiko – in vielen Ländern Lateinamerikas geht es wirtschaftlich und/oder politisch hoch her. Was läuft falsch auf dem Kontinent?Wie andere Schwellenländer auch spürt Lateinamerika die Veränderungen in den globalen Finanzströmen – ausgelöst durch die Zinsentwicklung in den Industrieländern. Die Auswirkungen sind aber nicht überall gleich. Die Märkte unterscheiden zwischen den Staaten – zum Beispiel zwischen Argentinien, wo es immer noch eine große Abhängigkeit von externer Finanzierung und strukturelle Fiskaldefizite gibt, und Mexiko, das über entwickelte und solide lokale Kapitalmärkte verfügt und überschaubare Haushaltsdefizite hat. Auch Brasilien wurde noch nicht so hart getroffen. Das Land verfügt über eine äußerst robuste externe Position mit großen Devisenreserven und sehr geringen Auslandsschulden. Venezuela würde ich ausklammern – das Land stellt eine Ausnahme dar.- Leiden die Länder also primär unter hausgemachten Problemen oder unter globalen Umständen wie etwa den US-Zinserhöhungen?Zusätzlich zu den beschriebenen negativen Veränderungen der externen Bedingungen gibt es eine Menge “hausgemachter Probleme” – und die sind heute in erster Linie das Problem. Venezuela ist wahrscheinlich das deutlichste Beispiel dafür: Nachdem das Land von einem Jahrzehnt mit den höchsten Ölpreisen profitiert hat, macht es jetzt eine der schlimmsten wirtschaftlichen und sozialen Krisen durch, die ein lateinamerikanisches Land je erlebt hat. Auch Brasilien ist ein Beispiel: Das Land kämpft mit einer rigiden Haushaltsstruktur und der Unfähigkeit der politischen Klasse, die Wurzel des Problems anzugehen. Das hat zu einem negativen Trend in der Haushaltslage geführt. Das hat uns dazu veranlasst, das Rating in den vergangenen vier Jahren um drei Stufen herabzustufen – auf aktuell “BB -“.- Es ist nicht lange her, da hat die Region ein “goldenes Jahrzehnt” erlebt – vor allem dank des Rohstoffbooms. Haben sich die Regierungen davon blenden lassen?Einige Regierungen haben während des vergangenen Jahrzehnts durchaus ordentlich gearbeitet. Ganz oben auf der Liste der positiven Veränderungen stehen die Einführung flexibler Wechselkurse und die Entwicklung und Vertiefung der lokalen Kapitalmärkte in mehreren Ländern wie Kolumbien, Peru, Chile, Brasilien und Mexiko. Darüber hinaus wurde die Schuldenzusammensetzung deutlich verbessert, mit mehr Bonds in nationaler Währung. Es wurde aber nicht genug getan, um mit Mikroreformen dafür zu sorgen, dass die Länder eine höhere Entwicklungsstufe erreichen – weg vom reinen Rohstoffproduzenten. Das würde die damit verbundenen Schwankungen in der wirtschaftlichen Performance verringern.- Könnte am Ende der ganze Kontinent in eine Krise stürzen – ähnlich der lateinamerikanischen Schuldenkrise der 1980er Jahre?Nun, viele Länder haben aus der Krise gelernt – und andere nicht. Das spiegeln wir in unseren Bewertungen wider. Wir haben auf der einen Seite des Spektrums Venezuela, bewertet mit “selective default”, und Argentinien mit “B+”, bei negativem Ausblick. Auf der anderen Seite haben wir Chile, Peru, Mexiko und Kolumbien, alle mit Investment Grade samt stabilem Ausblick. Wir sehen im Moment also kein Risiko, dass der Kontinent als Ganzes in eine Krise gerät.- Könnten die Turbulenzen in Lateinamerika dem globalen Wirtschaftsaufschwung den Garaus machen oder das Weltfinanzsystem ins Wanken bringen?In geringerem Umfang kann es sicher Ausstrahleffekte auf andere Länder und Regionen geben. Lateinamerika ist aber weder in Bezug auf die Nachfrage noch als Kapitalgeber groß genug, um die Weltwirtschaft wirklich zu destabilisieren. Einzelne Kapitalmärkte können womöglich Schaden nehmen, aber ich würde das nicht mit der globalen Finanzkrise von 2008/2009 vergleichen.—-Die Fragen stellte Mark Schrörs.