Oleg Wjugin

„Keiner lacht hier über Europa“

Oleg Wjugin ist eine der prominentesten Figuren in Russlands Finanzwelt. Der Ex-Notenbanker und Ex-Aufsichtsratschef der Moskauer Börse schildert, warum Russland den Gasexport drosselt, wie die Elite über Sanktionen denkt und wo reiche Russen nun ihr Geld parken.

„Keiner lacht hier über Europa“

Eduard Steiner.

Herr Wjugin, Sie gelten als sehr nüchtern denkender Mensch. Wer leidet unter den Sanktionen mehr: Europa oder Russland?

Schwierige Frage. Aber es sieht so aus, dass kurzfristig Europa vielleicht mehr leidet. Denn der Öl- und Gasexport bringt sehr hohe Einnahmen, da die Preise hoch sind und die Sanktionen in diesem Bereich noch nicht wirken. Und die Wirkung der Exportbeschränkungen aus Europa, die anfangs stark war, wurde schwächer, weil ein paralleler Import stattfindet und die Kontrollen der Sanktionen schwach sind. Mittelfristig aber, mit Blick auf 2023 und 2024, leidet natürlich Russland mehr.

Faktum ist, dass die Sanktionen den Krieg nicht gestoppt haben. Sind sie zu schwach oder nicht das richtige Mittel?

Es hängt alles von der Art der Sanktionen ab. Will man mit ihnen Russlands Wirtschaft vom Westen isolieren, gelingt das nicht schnell binnen eines Jahres, denn sie ist zu sehr mit der westlichen verwoben – und zwar nicht nur mit Energieträgern, sondern auch mit anderen Produkten, die für Europa wichtig sind.

Hätte es andere Mittel gegeben, um den Krieg zu stoppen?

Wirtschaftliche nicht. Russland hat derzeit genug Geld im Budget. Wenn aber Europa mit dem geplanten Ölembargo den russischen Öl-Umsatz wesentlich reduziert und bei Gas Ähnliches passiert, wozu auch Gazprom mit dem reduzierten Export beiträgt, dann wird Russland kein Geld mehr haben. Schon jetzt hängt das Budget zu 40% vom Öl- und Gasexport ab, da andere Steuereinnahmen im zweiten Quartal schrumpften.

Apropos Gaskrise, die Europa derzeit quält: Kann es sich Russland problemlos leisten, wie jetzt die Lieferungen zu kürzen?

Kurzfristig ja, denn der Gaspreis ist hoch und kompensiert das geringere Exportvolumen. Aber keiner kann sagen, ob der Preis auch 2023 hoch ist, zumal wenn global eine Rezession eintritt. Gazprom schafft mit der Kürzung jedenfalls die Situation, dass sich die Käufer abwenden, und das ist ein Verlust für die russische Wirtschaft.

Könnte der Gazprom-Konzern die Lieferung komplett stoppen?

Ich denke nicht, dass er das tut. Für ihn ist es wichtig, mit dem Manipulieren beim Exportvolumen auf die Entscheidungen der EU-Kommission Einfluss zu nehmen, die Russland und vor allem die russische Wirtschaft betreffen.

Der neuen Prognose der Zentralbank zufolge soll die Wirtschaftsleistung dieses Jahr nur 4 bis 6% sinken statt der zuvor prognostizierten 8 bis 10%. Stimmen Sie zu?

Ja. Denn die Exportpreise sind ex­trem hoch, und der Import zumindest bei Konsumprodukten läuft wieder besser.

Aber die Zentralbank sagt, dass die Krise sich hinzieht und das Bruttoinlandsprodukt 2023 weiter sinkt.

Das stimmt. Denn die Exporteinnahmen werden gegen Jahresende eher sinken. Und weil der Import wohl zunimmt, wird der Rubel stark fallen und die Inflation anheizen. Der Import steigt jetzt schon: So wurde etwa eine Route für westliche Autos von Dubai über Kasachstan nach Russland etabliert.

Langfristig ist wohl das Technologieembargo des Westens das folgenschwerste für Russland. Was ist kurzfristig am schlimmsten?

Die Folgen für die Auto- und die Schwermaschinenindustrie. Ersatzteillager leeren sich. Das trifft auch den Flug- und Bahnverkehr und sogar die Rüstungsindustrie.

Russlands Elite meint dennoch, dass der Westen mit seinen Sanktionen idiotisch und selbstzerstörerisch agiert. Da Sie selbst aus dem Establishment kommen: Spotten die Leute auch im privaten Gespräch über uns?

Die russische Propaganda klingt tatsächlich so. Sie setzt sich über den gesunden Menschenverstand hinweg. Im Übrigen gehöre ich nicht zur herrschenden Elite. Was aber die Ge­schäftsleute betrifft, so muss ich sagen, dass sie die Situation realistisch einschätzen. Viele haben ja bereits Verluste erlitten und suchen einen Ausweg. Keiner lacht hier über Europa. Weil es aber außer dem politisierten Unternehmerverband keine Organisation gibt, die die Geschäftsleute vereinigen würde, gibt es auch keine einheitliche offizielle Positionierung. Die meisten sehen neue Probleme für sich, einige aber auch neue Geschäftsmöglichkeiten – etwa beim Autoimport über Kasachstan. Für die Konsumenten wird alles teurer.

Herrschte bei den Geschäftsleuten am Anfang Schock, so jetzt also Pragmatismus oder Fatalismus?

Nicht Fatalismus, sondern Anpassung an die neuen Realitäten. So dauert die Überweisung für eine Lieferung einen Monat, während es zuvor fünf Tage waren. Damit sind Unternehmer beschäftigt.

Wir wissen, dass die Top-Wirtschaftsvertreter früher direkten Zugang zu Putin hatten und ihre Probleme dort äußern konnten. Wie sieht das derzeit aus?

Soweit ich die Situation kenne, haben sie heute Zutritt zu den Ministerien. Was den Präsidenten betrifft, weiß ich es nicht. Früher gab es zumindest mit den Großunternehmern regelmäßige Treffen.

Ist mein Eindruck richtig, dass die Wirtschaft dem Kreml nicht so wichtig ist?

Das würde ich so nicht sagen. Ich denke, es gibt einfach eine Arbeitsteilung. Die Ministerien kümmern sich um die Wirtschaft. Wobei sich die Kreml-Administration doch auch einmischt: Kürzlich etwa hat sich der Präsident mit dem Industrie- und dem Transportminister getroffen und speziell den Transport von Agrargütern besprochen. Offenbar gab es was zu lösen. Klar ist, dass in der heutigen russischen Politik die Politik die Priorität hat und die Wirtschaft zweitrangig ist.

Neulich hat Russlands Präsident Putin gesagt, dass der russische Handel in Richtung der großen Schwellenländer (BRICS) wie China oder Indien ausgerichtet wird. Ist das eine Drohung?

Es ist eine reale Politik und natürlich. Russland versucht hier engere Verbindungen aufzubauen – vielleicht auch mit der Türkei und dem Iran. Chancen bestehen, wenn auch für minderwertige Waren.

Zu mehr Investitionen aus diesen Ländern hat das bislang aber nicht geführt.

Davon war aber auch nicht die Rede, denn es ist längst klar, dass sie das nicht vorhaben. Ich kann mir auch nicht vorstellen, welches Interesse China, geschweige denn Indien daran hätte. Höchstens als An­teilseigner bei Rohstoffprojekten. China hat angeblich die Investi­tionen in Russland, die im Rahmen der Initiative „One Belt, One Road“ hätten stattfinden sollen, aufgrund der Ereignisse in der Ukraine gestoppt.

In Russland herrscht derzeit Euphorie, dass man jeglichen Import mit eigener Produktion substituieren kann. Wie realistisch ist das?

Sehen wir einmal an, wie es China gemacht hat. Es hat Technologie aus dem Westen geholt, Joint Ventures gegründet, um die Technologie zu studieren und dann selbst mehr oder weniger wettbewerbsfähig zu produzieren. China erzielte damit einen gewissen Erfolg.

Was heißt das für Russland?

Es ging – etwa in der Autoproduktion – auch diesen Weg, aber weniger effizient und weniger zielgerichtet. Und nun wurde dieser Weg jäh unterbrochen. Damit ist die Konzeption der Importsubstitution gescheitert. Es gibt keine Möglichkeit mehr, westliche Technologie zu übernehmen. Wie aber soll man Technologie entwickeln, wenn man nicht mit den führenden Firmen in jedem Sektor interagiert? Darauf habe ich keine Antwort.

Weil darin China den Westen auch nicht ersetzen kann?

Erstens das. Und zweitens weil es vielleicht seine stärksten Technologien einfach nicht weitergibt.

Aktuell kaum zu glauben, dass es Russland hier mit dem Westen leichter hätte als mit China.

Nun ja. Ich denke, mit den Chinesen ist es zweifellos schwieriger. Das ist eine andere Kultur – und ein anderer Zugang.

Gehört China zu den großen Nutznießern der Sanktionen?

Wer letztendlich gewinnt, wird sich erst zeigen. Die umliegenden Länder, die mit Russland kooperieren, verdienen jetzt jedenfalls sehr gut damit. In Russland selbst gewinnen sicher die Logistikfirmen, die nun neue Lieferrouten etablieren müssen.

Sie sind selbst Multimillionär. Was machen reiche Russen derzeit eigentlich mit dem Geld?

Ich möchte jetzt nicht über mich reden. Alle gehen unterschiedlich mit der Situation um. Der allgemeine Trend ist: Wer Geld, aber kein Unternehmen mehr in Russland hat, der versucht sein Geld ins Ausland zu schaffen: Vor allem in die Arabischen Emirate, Dubai ist der große Nutznießer. Teils werden Immobilien und Aufenthaltsgenehmigungen gekauft sowie Konten eröffnet. In einem kleineren Ausmaß auch in der Türkei. Unternehmer sehen sich auch in Kasachstan, in Zentralasien oder in Armenien um, um dort einen Teil des Geschäfts zu etablieren. Ein Problem ist, dass das große, aber auch das mittlere Kapital in Dollar vorhanden ist. Die Rubel werden wohl in Russland gehalten, um das Leben zu bestrei­ten und das Geschäft weiterzuführen, die Dollars aber im Ausland. Vor allem die, die mit dem Ausland weiter zu tun haben, brauchen das Geld dort, weil die Überweisungswege so problematisch geworden sind.

Wer investiert eigentlich noch in russische Aktien?

Privatinvestoren kaufen gewisse russische Aktien. Aber die Liquidität ist sehr gering. Und das Risiko ungleich höher als früher. Der Index ist inzwischen sogar niedriger als nach dem 24. Februar.

Das Interview führte

BZ+
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