WACHWECHSEL IN WESTMINSTER

Kind des Establishments

Boris Johnson am Ziel - Anders als Trump ist Mays Nachfolger ein Liberaler

Kind des Establishments

Von Andreas Hippin, LondonAlexander Boris de Pfeffel Johnson (55) hat sein Ziel erreicht. Drei Jahre später als von allen erwartet, die ihm vorgeworfen hatten, sich aus Karrieregründen an die Spitze der Brexit-Befürworter gesetzt zu haben, wird der ehemalige Bürgermeister von London Premierminister des Vereinigten Königreichs. Den zeitlichen Abstand zum EU-Referendum von 2016 ermöglichte ihm sein “Vote Leave”-Kampfgenosse Michael Gove, der ihm damals in letzter Minute das Messer in den Rücken rammte und damit unfreiwillig Theresa May zur Macht verhalf.Johnson hat die Zeit nicht ungenutzt verstreichen lassen. Spätestens seit seinem Rücktritt als Außenminister im vergangenen Jahr war klar, dass Boris, wie ihn seine Anhänger und Gegner nennen, die Hoffnung auf das Amt des Premierministers nie aufgegeben hat. Er reitet auf der Welle der Empörung, die all diejenigen umtreibt, die sich in ihrer Hoffnung auf einen klaren Schnitt mit der EU betrogen sehen. An der konservativen Parteibasis und in der Bevölkerung ist der kumpelhafte, schusselige Typ beliebt, den Johnson gern darstellt. Als Journalist der “Times” und des “Daily Telegraph” hatte Johnson Gelegenheit, seine Ausdrucksfähigkeit zu schärfen, unter anderem als Berichterstatter aus Brüssel. Egal, ob es um Afrikaner, Muslime oder Schwule geht: Political Correctness kümmert den gebürtigen New Yorker nicht, deshalb halten viele den Rechtsaußen der Tories für ehrlich und echt. Die Versuche seiner Gegner, ihn mit Hilfe von aus dem Zusammenhang gerissenen, jahrzehntealten Zitaten aus seinen Artikeln als Rassisten oder Feind des Islam zu diskreditieren, wirken so hilflos wie vergleichbare Anstrengungen gegen Donald Trump in den USA. George II. im StammbaumAllerdings stammt der leidenschaftliche Radfahrer mit der betont unordentlichen Frisur aus einer ganz anderen Welt als seine Fans. Anders als der neureiche Emporkömmling Trump ist Johnson ein fester Bestandteil des britischen Establishments. König George II. (1683 bis 1760) gehört ebenso zu seinen Vorfahren wie der Journalist Ali Kemal Bey, der einst dem Großwesir des Osmanischen Reichs als Innenminister diente. Seine Verwandtschaft mit Bey nutzt er geschickt als Schutzschild gegen Islamophobie-Vorwürfe. Seine Urgroßmutter übersetzte die Werke Thomas Manns ins Englische. Heute belegt der Johnson-Klan der “New York Times” zufolge im britischen Leben einen Platz “irgendwo im weiten, formlosen Raum zwischen den Kennedys und den Kardashians”. Und obwohl sich Bruder Jo, Schwester Rachel und Vater Stanley mit unterschiedlicher Vehemenz gegen den Brexit ausgesprochen hatten, gilt mittlerweile wieder: Blut ist dicker als Wasser. Seine Familie nennt ihn angeblich Al, eine Kurzform von Alexander, was darauf hindeutet, dass es sich bei Boris um eine Kunstfigur handelt.Johnson ist kein Radikaler, das hat er in seiner Zeit in der Londoner City Hall unter Beweis gestellt. Hinter den marktradikalen Sprüchen verbirgt sich ein überzeugter Liberaler, der sich in dem immer wieder bemühten Artikel, in dem er Burka-Trägerinnen mit Briefkästen und Bankräubern verglich, für deren Recht auf Vollverschleierung aussprach. Kein Wunder also, dass die Puristen von der Brexit Party ihm nicht über den Weg trauen. Nun liegt es an ihm, ob er den Austritt aus der EU als Aufbruch zu neuen Ufern verkaufen kann. Sein Appell an den “Can do”-Geist des Amerika der sechziger Jahre, der diese Woche im “Daily Telegraph” zu lesen war, wirkte allerdings etwas hilflos.