Königreich Belgien - sechs Parlamente, aber null Einheit
Von Andreas Heitker, BrüsselDass die Parlamentswahl schon wieder gut 120 Tage her und noch immer keine neue Regierung im Amt ist, ist eigentlich kein großer Grund zur Sorge. Auch in anderen EU-Mitgliedstaaten sind Koalitionsverhandlungen zuletzt schwierig gewesen, siehe Berlin, siehe Madrid. Und ohnehin hat Belgien 2010/11 auch schon ganz andere Zeiten erlebt: Damals hat die Regierungsbildung 541 Tage gedauert.Das Problem ist nur: Vor neun Jahren gab es eine funktionierende geschäftsführende Regierung in Brüssel. Die heutige hat dagegen keine Mehrheit und ist kaum handlungsfähig – was angesichts der dunklen Wolken am Konjunkturhimmel und eines immer mehr aus dem Ruder laufenden Defizits im föderalen Haushalt alles andere als hilfreich ist.Hinzu kommt diesmal noch zum einen, dass führende Köpfe der aktuellen geschäftsführenden Regierung auf dem Sprung sind: Am 1. November soll Außenminister Didier Reynders sein Amt als neuer EU-Justizkommissar antreten. Und einen Monat später beginnt das Mandat für den amtierenden Ministerpräsidenten Charles Michel als neuer EU-Ratspräsident. Seine Nachfolge in Belgien: völlig offen.Hinzu kommt zum anderen aber auch, dass das Wahlergebnis von Ende Mai, als nicht nur das nationale Parlament neu bestimmt wurde, sondern auch die fünf Parlamente der Regionen und Sprachgemeinschaften, wenig Spielraum lässt: Die Gräben in dem ohnehin schon gespaltenen Königreich sind durch die Wahlen nämlich noch ein wenig tiefer geworden. Vermittler bislang gescheitertIn der französisch-sprachigen Gemeinschaft beziehungsweise in Wallonien ist die sozialdemokratische PS die stärkste Partei und bekommt eher noch Druck von Linksaußen. Im reicheren Norden Belgiens, in Flandern, wählten dagegen über 40 % rechte Parteien. Hier ist die nationalistische Neu-Flämische Allianz (N-VA) die stärkste Gruppierung und bekommt eher noch Druck von Rechtsaußen, von der rechtsextremen Vlaams Belang (VL).Dass eine föderale Regierungskoalition nun im Wesentlichen eigentlich aus der frankofonen PS und der flämischen N-VA gebildet werden müsste, beide Parteien aber nichts miteinander zu tun haben wollen, ist der Kern des Problems bei der Suche nach einer neuen Regierung. Belgiens König Philippe hatte deshalb bereits unmittelbar nach der Wahl zwei Vermittler ernannt, die in Gesprächen mit den einzelnen Parteien eine Lösung ausloten sollten: den liberalen Außenminister Reynders und Johan Vande Lanotte, den früheren Vizeregierungschef, einen Sozialisten aus dem Norden. An den aktuellen Sondierungen dieser beiden sogenannten Informatoren nehmen noch sechs Parteien teil. Greifbare Ergebnisse bisher: Fehlanzeige.Dass sich dies bis zum Abschlussbericht der Vermittler Anfang Oktober noch ändern wird, erwartet in Belgien zurzeit niemand. Zwar gibt es auch Überlegungen bezüglich einer möglichen Koalition ohne Beteiligung der flämischen N-VA. Experten warnen aber, dass dies die Spaltung des Landes nur noch weiter vertiefen könnte, was sich dann bei der nächsten Wahl zeigen werde. Und zudem könnte die künftige flämische Regionalregierung der Koalition auf nationaler Ebene gehörig Schwierigkeiten bereiten. Dass wie in Deutschland Bundesrecht Landesrecht bricht, gilt in Belgien nicht. Hier wird den Regionen deutlich mehr Macht zugestanden.Die kleine deutschsprachige Gemeinschaft in Belgien hatte bereits Anfang Juni, nur wenige Tage nach der Wahl, eine neue Regierung gebildet. Und auch die Führung in der Hauptstadtregion Brüssel stand recht schnell fest. Seit Mitte September haben mittlerweile auch die französische Gemeinschaft und Wallonien neue Regierungen: Die PS führt hier nun eine Dreier-Koalition mit den Liberalen und den Grünen, nachdem die Gespräche mit den Linkspopulisten gescheitert waren. In Flandern verliefen die Verhandlungen dagegen zäher als allgemein erwartet. Hier ist die Regierungsbildung noch offen, was auch dazu geführt hat, dass es auf föderaler Ebene keine Fortschritte gibt. Die N-VA hat mit der rechtsextremen Vlaams Belang verhandelt. Kritiker sagen, VL wurde damit hoffähig gemacht. Und in jüngsten Umfragen wurde die VL in Flandern erstmals auch als stärkste Partei geführt. Die N-VA fiel auf den zweiten Platz zurück.Wie es jetzt bei der Bildung einer neuen belgischen Regierung weiter geht, ist völlig offen. In einem Politbarometer, das kürzlich im Auftrag unter anderem der Zeitungen “Le Soir” und “Het Laatste Nieuws” erstellt wurde, lehnte die Hälfte der Befragten eine Koalition aus den beiden stärksten Parteien aus dem Norden und dem Süden des Landes, also von N-VA und PS, ab. Neuwahl ist keine Option Eine solche Verbindung hätte nur eine Zustimmung von 32 %. Neuwahlen lehnten allerdings rund zwei Drittel der Belgier ab. Und auch in den meisten Parteien wird dies nicht als ernsthafte Option gesehen – aus Sorge vor weiteren Verlusten.Dass angesichts der verfahrenen Situation auch das ewige Thema Staatsreform in Belgien wieder neu diskutiert wird, ist keine Überraschung. In dem Politbarometer sagten auch nur 13 % der Befragten, dass sie mit der aktuellen Situation des belgischen Föderalstaats zufrieden seien. Rund 40 % der Belgier sprechen sich demnach mittlerweile für eine stärkere Zentralisierung der politischen Macht in Brüssel aus. Aber genauso viele Belgier dringen auch auf mehr Macht für die Regionen – oder sogar für eine Spaltung des Landes.