Kreative Buchführung statt Erbsenzählerei

Von Andreas Hippin, London Börsen-Zeitung, 7.3.2020 Das britische Office for Budget Responsibility (OBR) ist nur einer von vielen Haushaltswächtern, die in den Jahren nach der Finanzkrise allerorten ins Leben gerufen wurden. Davor gab es weltweit...

Kreative Buchführung statt Erbsenzählerei

Von Andreas Hippin, LondonDas britische Office for Budget Responsibility (OBR) ist nur einer von vielen Haushaltswächtern, die in den Jahren nach der Finanzkrise allerorten ins Leben gerufen wurden. Davor gab es weltweit nur wenige Institutionen dieser Art. Der 1936 gegründete belgische Hohe Rat für Finanzen ist die älteste. Wenn Robert Chotes zweite Amtszeit als Chairman des OBR im Oktober endet, könnte sich die Ausrichtung der Institution radikal ändern.Als der damalige Schatzkanzler George Osborne das OBR 2010 gründete, ging es ihm darum, das ausufernde Defizit und die steigende Staatsverschuldung in den Griff zu bekommen. Es war ein radikaler Schritt, ähnlich der Entscheidung Gordon Browns, die Bank of England in die Unabhängigkeit zu entlassen. Osborne ermöglichte er die Abgrenzung von der Vorgängerregierung. Zudem wollte es der glühende Verehrer von Margaret Thatcher auch künftigen Regierungen erschweren, die Erfüllung ihrer Wahlversprechen durch neue Schulden zu finanzieren. Es war die Zeit der “Schäubleisierung” der Fiskalpolitik, der Vergötterung der schwäbischen Hausfrau und der Glorifizierung der schwarzen Null. Das OBR genoss weltweit großes Ansehen.Doch was gestern noch heilig war, ist heute schon verpönt – “from hero to zero”, wie der Brite sagt. Boris Johnson, der bei der Wahl im Dezember eine Mehrheit von 80 Sitzen im Unterhaus holte, verkündete das Ende der Sparpolitik. Rishi Sunak, der das Schatzamt eben erst von Sajid Javid übernommen hat, führt derzeit Gespräche mit den Bewerbern für Chotes Posten. Ihm dürfte es nicht allzu schwer fallen, aus dem Wachhund einen Schoßhund zu machen. Denn das OBR ist zwar dem Namen nach unabhängig, aber beim Schatzamt angesiedelt. Es liefert die Prognosen für die Haushaltspolitik der Regierung und prüft, ob sich diese an ihre eigenen Vorgaben hält, etwa das Versprechen, Investitionen herausgerechnet, binnen drei Jahren einen ausgeglichenen Haushalt zu erreichen. Sunak könnte daraus in einem ersten Schritt fünf Jahre machen, um Johnson Geld für die von ihm versprochenen zusätzlichen Krankenschwestern, Ärzte und Polizisten zur Verfügung zu stellen. Dem OBR bliebe nichts weiter übrig, als die neue Messlatte anzulegen.Es soll zwar auch die Nachhaltigkeit des Ausgabeverhaltens der Regierung prüfen. Aber wer wie Sunak bei Goldman Sachs und Christopher Hohns Hedgefonds TCI (The Children’s Investment Fund Management) gearbeitet hat, könnte bei der Interpretation von Nachhaltigkeit erstaunliche Kreativität zeigen. Schließlich kommt es auch künftigen Generationen zugute, wenn mehr Ärzte, Krankenschwestern und Polizisten eingestellt werden. Warum sollten ihre Gehälter also nicht als Investitionen klassifiziert werden? Und dann ist da noch der Klimawandel, der als Rechtfertigung für nahezu jede Ausgabe herangezogen werden kann, ob es nun um eine vorauseilende Anpassung an die möglichen Folgen geht oder um Milliardeninvestitionen in Verkehrsinfrastrukturprojekte wie die Hochgeschwindigkeitsbahnstrecke HS2, die besser in die 1960er Jahre gepasst hätten.Vielleicht hat das OBR ja das Ende seines Haltbarkeitsdatums erreicht. Wen interessiert schon fiskalische Nachhaltigkeit, solange man sich fast zum Nulltarif verschulden kann? Großbritannien könnte durch die Abwicklung der Institution einen neuen Trend setzen.——Der Bedarf an unabhängigen Haushaltshütern sinkt rapide.——