LEITARTIKEL

Krisenlösung bleibt Versuch

Nun ist das geschehen, was unbedingt verhindert werden sollte und sich kaum jemand vorstellen mochte. Deutschland steht von Montag an vor einem zweiten Lockdown in der Corona-Pandemie. Nachdem sich das Virus während des Sommers nur verhalten...

Krisenlösung bleibt Versuch

Nun ist das geschehen, was unbedingt verhindert werden sollte und sich kaum jemand vorstellen mochte. Deutschland steht von Montag an vor einem zweiten Lockdown in der Corona-Pandemie. Nachdem sich das Virus während des Sommers nur verhalten verbreitete, schnellen die Infektionszahlen hierzulande und in Europa explosionsartig empor. Mit 16 774 neuen Infektionen binnen eines Tages wurde am Donnerstag wieder ein Höchstwert erreicht. Wer die Wirkung einer Exponentialfunktion aus seiner Schulzeit nicht mehr ganz parat hatte, kann nun am praktischen Beispiel ermessen, was diese rasante Entwicklung bedeutet. Einigermaßen kontrollierbar bleibt sie nur in einem frühen Stadium. Deshalb kommen die harten Beschlüsse der Regierungschefs von Bund und Ländern auch keineswegs zu früh. Gelingt die Operation, können sie auf kurze Zeit beschränkt bleiben. Dies ist eine berechtigte Hoffnung.Aus dem ersten Lockdown im Frühjahr haben Bund und Länder gelernt und diesmal milder agiert. Die Wirtschaft ist weniger stark betroffen, wohl aber die Branchen, die für das gesellige Leben stehen – jenes, das Menschen besonders nah zusammenführt, Hausgemeinschaften mischt und Situationen ohne Abstands- und Hygieneregeln schafft. Schutz von Gesundheit und des Wirtschaftslebens sind jetzt gleichermaßen das Ziel. Schulen und Kitas bleiben offen. Dies folgt nicht nur dem Recht auf Bildung der jungen Generation. Dahinter steht auch die Erkenntnis, dass Kinderbetreuung nicht mal so nebenher läuft und Eltern nicht Homeoffice, Homeschooling und Babysitting gleichzeitig vollbringen können. Die Krisenerfahrung aus der Zeit geschlossener Grenzen in Europa hat auch gelehrt, wie anfällig unser Wirtschaftssystem ist. Obwohl die Schlagbäume für Waren oben blieben, waren Lieferketten empfindlich gestört. Die enge wirtschaftliche Vernetzung hat auch viele Experten überrascht. Greift der Staat dort ein, ist der wirtschaftliche Schaden groß. Der Staat hat zudem die Grenzen seines Handelns erkannt, wenn es um Hilfen geht. Aus einem neuen Hilfstopf von 10 Mrd. Euro will die Bundesregierung nun drei Viertel der Umsatzausfälle von Soloselbständigen und kleinen Unternehmen im November kompensieren. Für größere Firmen sind Sonderregelungen geplant. Im Frühjahr hatten Bund- und Länderhilfen auf die Übernahme von Kosten gesetzt. Dies erwies sich als unübersichtlich und unpraktikabel für Hilfesuchende und staatliche Stellen. Zudem zeigte sich, dass auch ein noch so klug gestricktes Hilfsprogramm nicht alle Wirtschaftskonstellationen abdecken kann. Der nun angepeilte Ersatz von Umsatz soll einfacher sein, lässt aber den leisen Verdacht aufkommen, dass dessen Erfinder Umsatz und Gewinn nicht unterscheiden kann.Gefährlich ist die Pandemie auch deshalb, weil sie den Staat an den Rand seiner finanziellen Tragfähigkeit bringen kann. Deutschland ist noch in vergleichsweise guter Lage, da es mit Überschüssen in den öffentlichen Haushalten in die Krise startete und eine Reserve in zweistelliger Milliardenhöhe im Bundesetat schlummert. Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) verspricht, er könne die nun zugesagten 10 Mrd. Euro aus dem Haushalt stemmen, ohne den Bundestag um neue Kredite bitten zu müssen. Die Wirtschaft hatte schon wieder Fahrt aufgenommen. Die Steuerausfälle sind moderater als angenommen. Dieser Betrag für eine vergleichsweise kleine Gruppe reicht nur für einen Monat – was geschieht, wenn diese nicht ausreicht? Eine der teuersten Einzelhilfen des Konjunkturpakets ist die Mehrwertsteuersenkung. Sie kostet aber für sechs Monate 20 Mrd. Euro. Die Rückkehr zu soliden öffentlichen Finanzen wird immer schwieriger. Ein Land mit einer alternden Bevölkerung, die weniger erwirtschaftet, muss aber darauf achten. In Zeiten wie diesen steigt auch die Neigung, sich die Welt schönzureden. Das gesamtstaatliche Defizit in diesem und im nächsten Jahr liegt nach Einschätzung des wissenschaftlichen Beirats, der über die Haushaltspolitik wacht, spürbar höher, als Bund und Länder es angeben, wenn unkonkrete Maßnahmen außer Acht bleiben. Zudem führt die Verlagerung von Verschuldung auf die EU-Ebene zu niedrigeren nationalen Defiziten, löst aber kein Problem.——Von Angela WefersDie harten Beschlüsse der Regierungschefs von Bund und Ländern kommen keineswegs zu früh. Die Krise ist damit aber noch nicht gelöst.——